26. September 1983, kurz nach Mitternacht: In einem Bunker in der Stadt Serpuchow, rund 50 Kilometer südlich von Moskau, beginnt eine schrille Sirene zu heulen. Ein Computer in der Kommandozentrale der sowjetischen Luftraumüberwachung schlägt Alarm: Er meldet eine amerikanische Atomrakete, die sich im Anflug befindet.
Dem diensthabenden Offizier, Oberstleutnant Stanislaw Petrow, bleiben nur wenige Minuten. Der 44-Jährige muss entscheiden: Handelt es sich um einen Fehlalarm – oder sind die USA dabei, die Sowjetunion mit einem nuklearen Erstschlag anzugreifen? Für den Fall eines atomaren Angriffs kennt die sowjetische Doktrin nur eine Antwort: einen massiven nuklearen Gegenschlag mit allen verfügbaren Mitteln.
Petrow zögert. Seltsam ist, dass die Amerikaner nur eine Rakete lanciert haben – ein nuklearer Enthauptungsschlag, mit dem die USA versuchen könnten, die sowjetische Kapazität für einen Vergeltungsschlag auszuschalten, sieht anders aus. Zudem hat es in der Vergangenheit mehrmals Zweifel an der Zuverlässigkeit des Frühwarnsystems gegeben.
Satellitenbilder der amerikanischen Raketenbasis verschaffen Petrow keine Klarheit. Zwar sind darauf keine Raketenstarts erkennbar, aber da die Basis sich gerade auf der Tag-Nacht-Grenze befindet, sind die Aufnahmen undeutlich. Petrow entschliesst sich, dem Militärkommando einen Fehlalarm zu melden.
Kaum hat der Offizier den Alarm als Fehler eingestuft, meldet der Computer erneut einen amerikanischen Angriff. Nun sollen es vier weitere Atomraketen sein, die sich kurz nacheinander dem sowjetischen Luftraum nähern. Insgesamt fünf Minutemen-Atomraketen, jede davon mit zehn Sprengköpfen ausgerüstet – es ist das mehrhundertfache Vernichtungspotenzial der Hiroshima-Bombe, das hier im Anflug ist.
Wieder steht Petrow, der nicht auf weitere Daten zurückgreifen kann, vor demselben Dilemma: Den Angriff melden und damit den Atomkrieg auslösen – oder von einem Fehlalarm ausgehen und damit den Amerikanern möglicherweise einen vernichtenden Schlag gegen das sowjetische Vergeltungspotenzial ermöglichen.
Viel später, im Jahr 2013, schilderte Petrow dem russischen Dienst der BBC, wie die Situation sich damals für ihn darstellte: «Ich hatte alle Daten [die für einen Raketenangriff sprachen]. Hätte ich meinen Bericht die Befehlskette hinaufgeschickt, niemand hätte ein Wort dagegen gesagt.» Er fügte hinzu: «Ich hätte nur das Telefon in die Hand nehmen und die direkte Linie zum Kommando wählen müssen – aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich fühlte mich, als sässe ich auf glühenden Kohlen.»
Petrow überlegt. Er kommt zum Schluss, dass vier bis fünf Atomraketen zu wenig sind, um einen US-Angriff plausibel erscheinen zu lassen. Ein amerikanischer Erstschlag, so seine Einschätzung, müsste mit viel massiveren Mitteln erfolgen. Wieder meldet er einen Fehlalarm.
«23 Minuten später wurde mir klar, dass nichts passiert war. Wäre es ein realer Angriff gewesen, hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon davon erfahren. Was für eine Erleichterung!», erzählte Petrow der BBC. Die vermeintlichen amerikanischen Atomraketen waren in Wahrheit von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen gewesen – das sowjetische Frühwarnsystem hatte sie irrtümlich als Raketenstarts interpretiert.
Der Fehlalarm war umso gefährlicher, als sich die Beziehungen zwischen den beiden Supermächten 1983 auf einem Tiefpunkt befanden. In diesem Jahr hatte US-Präsident Ronald Reagan die Sowjetunion zum «Reich des Bösen» ernannt und zudem den Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen (SDI) angekündigt.
Erst am 1. September hatte zudem ein sowjetischer Abfangjäger ein verirrtes koreanisches Passagierflugzeug abgeschossen, das irrtümlich den sowjetischen Luftraum verletzt hatte. Die relativ entspannten 70er Jahre waren vorbei, zwischen den Supermächten herrschte abgrundtiefes Misstrauen.
Für seine Entscheidung wurde der Oberstleutnant weder belobigt noch bestraft. Seine Vorgesetzten zogen es vor, die Angelegenheit diskret unter den Teppich zu kehren – schliesslich hatte der Vorfall gezeigt, dass das sowjetische Frühwarnsystem gefährlich fehleranfällig war. Erst später, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der Sowjetunion, wurde Petrow ausgezeichnet. So erhielt er 2006 den World Citizen Award und 2013 den Dresden-Preis.
Am 19. Mai 2017 starb Stanislas Petrow, der ein bescheidenes Rentnerdasein geführt hatte, im Alter von 77 Jahren in Frjasino bei Moskau. Sein Tod blieb von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt; Petrow hatte zurückgezogen gelebt. Er hatte immer wieder betont, er habe nicht die Welt gerettet, sondern «nur seinen Job gemacht».