Angela Merkel wird von ihren Geschwistern als die typische grosse Schwester bezeichnet – verantwortungsvoll und verlässlich. Prinz Harry macht durch seine Eskapaden von sich reden, sein grosser Bruder und Thronfolger William durch seine Bilderbuchfamilie. Die Sängerin und Schauspielerin Solange Knowles konnte nie aus dem Schatten ihrer grossen Schwester Beyoncé treten.
Diese Politiker, Adeligen und Stars scheinen keine Ausnahme zu bilden, sondern eine Regel zu bestätigen. Immer mehr Forscher untersuchen den Einfluss der Rolle innerhalb der Familie auf den Charakter und beruflichen Erfolg – jenseits vom Verständnis des Menschen als unabhängiges und selbstbestimmtes Subjekt. Und sie sind sich einig: Die Ersten bleiben die Ersten.
So fand ein Team der britischen Universität Essex heraus, dass die ältesten Kinder in ihrer Familie als die ehrgeizigsten gelten. Die Universität Georgia stellte fest, dass die Ersten im Erwachsenenalter am häufigsten Führungspositionen einnehmen. Norwegische Forscher untersuchten junge Männer und kamen zum Schluss, dass die Erstgeborenen bei einem IQ-Test um durchschnittlich 2,3 Punkte höher lagen als die kleinen Geschwister. Die Mehrheit der US-Präsidenten waren Erstgeborene. Dasselbe gilt für Astronauten und amerikanische Eliteuni-Absolventen.
Warum existiert dieses Ungleichgewicht zwischen den Geschwisterrollen noch hier und heute, in einer Welt, die den Ältesten nicht mehr automatisch mehr Pflichten und Besitz einräumt? Jetzt hat ein Projekt der schottischen Universität Edinburgh nach Gründen für diese Unterschiede gesucht. Ana Nuevo Chiquero, eine der Studienleiter, betont gegenüber der «Schweiz am Sonntag»: «Unsere Studie ist die erste, welche die kognitiven Fähigkeiten von Geschwistern während ihrer gesamten Kindheit untersucht hat, um die Entstehung des Erstgeborenen-Vorteils besser zu verstehen.»
Über 5000 Kinder wurden bis zum Alter von 14 Jahren alle zwei Jahre in verschiedenen Bereichen wie Lesen, Mathematik, Hörverstehen und logischem Denken getestet. Das kindliche Verhalten und dasjenige ihrer Eltern zu Hause wurde ebenfalls aufgezeichnet. So analysierten die Forscher zum Beispiel die Aktivitäten, welche Eltern mit den Kindern unternahmen. Wie oft geht der Vater mit dem zweitgeborenen Baby spazieren? Welche Museen besuchen die Eltern mit ihm? Und wie lange bleiben sie dort? Wie oft sprechen sie allein mit ihm? Welche Bücher lesen sie vor? Und wie sehen diese Aufzeichnungen im Vergleich zum Erst- oder Drittgeborenen aus? Am Ende stellte sich heraus: Bereits ab dem Alter von einem Jahr erzielen Erstgeborene in den Tests höhere Resultate.
Entstehen die Leistungsdifferenzen aufgrund angeborener Fähigkeiten? Oder gibt es gar Unterschiede in der emotionalen Nähe zu den Eltern, welche bessere Leistungen zur Folge haben? Weder noch. Die Forscher kamen zum Schluss, dass der Vorsprung der Älteren zu den Jüngeren vor allem auf die Erziehung der Eltern zurückgeht: «Der Einfluss der Erziehung auf den beruflichen Werdegang eines Kindes wurde bisher unterschätzt», beobachtet Nuevo Chiquero.
Mit dem ersten Kind verbringen Mütter und Väter im Vergleich zum restlichen Nachwuchs mehr Zeit mit intelligenzfördernden Aktivitäten wie Lesen, Basteln oder Museumsbesuchen. Die Forscher beobachteten aber auch, dass Spätergeborene schneller von den älteren Geschwistern lernen, wenn diese ihnen etwas beibringen und sie daher zum Beispiel früher rechnen können als ihre älteren Geschwister. Doch nicht nur kleine Brüder und Schwestern profitieren von dem Schülerspielen. Denn die Tutorfunktion der Grossen habe einen positiveren Effekt auf ihre kognitiven Fähigkeiten als die Schülerrolle auf die Kleinen. Deshalb sind es auch vor allem ältere Geschwister, und nicht Einzelkinder, bei denen ein höherer IQ festgestellt wurde. Ältere lernen mehr, indem sie lehren.