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Musk hat gerade 10'000 der schlimmsten Leute zurück zu Twitter geholt

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Musk hat gerade Zehntausende der schlimmsten Leute im Internet zurück zu Twitter gebracht

Elon Musk erlaubt Zehntausenden gesperrten Twitter-Usern die Rückkehr und zettelt einen Privatkrieg mit Apple an. Zu seinem grössten Albtraum könnte aber bald das neue Digitalgesetz der EU werden.
29.11.2022, 17:5901.12.2022, 00:06
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Vergangene Woche kündigte Tech-Milliardär Elon Musk an, von Twitter verbannte Accounts wieder freischalten zu wollen. Zuvor hatte er einen Bruchteil der User darüber abstimmen lassen, ob es für gesperrte Konten eine «Generalamnestie» geben soll, wenn diese nicht gegen Gesetze verstossen oder Spam-Nachrichten verbreitet haben. 72,4 Prozent sagten Ja. Wie viele Stimmen von Bots, sprich automatisierten Accounts, abgegeben wurden, ist unklar. Das US-Techportal The Verge titelte süffisant: «Elon Musk hat soeben beschlossen, die schlimmsten Leute im Internet zurück zu Twitter zu bringen».

Nun zeigt sich: Musk verschwendet keine Zeit und hat die Schleusen bereits weit geöffnet. Der Technologie-Insiderdienst Platformer berichtete am Dienstag, dass Twitter damit begonnen habe, rund 62'000 Profile mit jeweils über 10'000 Followern freizuschalten. Darunter ein Konto mit 5 Millionen und 75 Konten mit jeweils über einer Million Followern. Unter Twitter-Angestellten werde die Massenentsperrung als «The Big Bang» bezeichnet.

Die Namen der Konten sind laut Platformer noch nicht bekannt, aber im Netz existiert ein Tracker, der für jeden Tag zeigt, welche Konten seit Musks Twitter-Übernahme entsperrt wurden. Es dürfte nicht lange dauern, bis die wichtigsten der entsperrten Profile dort aufgeführt werden.

Musk entlässt Inhalte-Moderatoren und parliert mit Verschwörungserzählern

Die pauschale Wiederherstellung Zehntausender Konten könnte weitreichende Folgen haben. Dies «insbesondere in Regionen, in denen Twitters Moderations- und Compliance-Kapazitäten durch den neuen Chef des Unternehmens ausgehöhlt wurden», schreibt Platformer.

Zur Erinnerung: Musk hatte als eine seiner ersten Amtshandlungen rund 5000 Inhalte-Moderatoren und Daten-Analysten entlassen, die Hassrede beseitigten, Falschinformationen kennzeichneten und auf das Aufspüren von staatlichen Desinformationskampagnen spezialisiert waren.

Bereits vor der «Generalamnestie» liess Musk nebst Donald Trump mehrere rechte Influencer-Accounts freischalten, die unter anderem wegen homophober und rassistischer Äusserungen gesperrt worden waren. Musk äusserte sich darüber hinaus wiederholt zustimmend zu Äusserungen rechtskonservativer Accounts, die Verschwörungserzählungen verbreiten.

Auf Kollisionskurs mit Apple

Musk bringt Twitter direkt auf Kollisionskurs mit Apple und anderen Werbekunden, die um ihr Image fürchten. Der iPhone-Hersteller war laut Washington Post Twitters zweitgrösster Werbekunde. Apple soll allein im ersten Quartal 48 Millionen US-Dollar für Werbung auf Twitter ausgegeben haben. Nun twitterte Musk, Apple habe seine Werbung auf Twitter «weitgehend» gestoppt. «Hassen sie die Redefreiheit in Amerika?», kommentierte Musks Apples Entscheidung, die Werbung auf Twitter auszusetzen.

Laut der unabhängigen Organisation Media Matters haben wegen Bedenken über die Entwicklung bei Twitter die Hälfte der 100 wichtigsten Werbepartner ihre Anzeigen «offenbar ausgesetzt». Musk habe darauf mehrere CEOs persönlich angerufen, um sie für die Streichung der Werbung zu beschimpfen, berichtete die «Financial Times».

User nutzten die fehlende Identitätsprüfung und imitierten Unternehmen mit echt aussehenden Fake Accounts. Viele Unternehmen stellten nach dem Chaos ihre Anzeigen auf Twitter ein.
User nutzten die fehlende Identitätsprüfung und imitierten Unternehmen mit echt aussehenden Fake Accounts. Viele Unternehmen stellten nach dem Chaos ihre Anzeigen auf Twitter ein.

«Was ist hier los, Tim Cook?»

Musk behauptete weiter, dass Apple ohne Angabe von Gründen gedroht habe, die Twitter-App aus dem App Store zu entfernen. Knüppeldick käme es für ihn, wenn Apple Twitter tatsächlich wegen ungenügender Inhalte-Moderation aus dem App Store werfen würde.

Völlig unrealistisch ist dies nicht: Apple hat schon zuvor umstrittene Apps wie den von Rechtskonservativen in den USA genutzten Twitter-Klon Parler temporär aus dem App Store entfernt. Als unheilvolles Zeichen kann auch gedeutet werden, dass App-Store-Chef Philip Schiller vor ein paar Tagen sein Twitter-Profil deaktiviert hat.

Allerdings liess Apple in der Vergangenheit gesperrte Apps oft zurück, wenn sie minimale Inhalte-Kontrollen einführten. So findet sich selbst Donald Trumps Twitter-Klon Truth Social im App Store. Dass Twitter dauerhaft verbannt wird, scheint daher unwahrscheinlich.

Apple ist eher dafür bekannt respektive berüchtigt, App-Updates zu blockieren, bis App-Entwickler seine Forderungen erfüllen. Normalerweise schweigen Unternehmen, wenn sie mit Apple im Clinch liegen, da ihnen bewusst ist, dass sie am kürzeren Hebel sitzen. Musk tut genau das Gegenteil. Er versucht, Apple mit mehreren Tweets öffentlich unter Druck zu setzen.

Seine Kritik an den hohen App-Store-Gebühren (Apple greift bis zu 30 Prozent der Erlöse der App-Entwickler ab) sowie am App-Store-Monopol auf dem iPhone trifft Apples wunden Punkt. Kartellbehörden in mehreren Ländern prüfen derzeit, ob Apple diesbezüglich seine Marktmacht missbraucht. Ein wild gewordener Musk, der die Kartellverfahren wieder in die Medien bringt und somit in die Köpfe von Konsumenten und Politikern hämmert, ist das Letzte, was Apple brauchen kann.

Wie üblich formierten sich nach Musks Tirade sofort seine teils fanatischen Fans auf Twitter, die ebenfalls auf Apple losgingen und zum Boykott von Apple-Produkten aufriefen. Apple muss dies nicht kümmern. Abseits einer kleinen Minderheit besessener Musk- und Tesla-Fans wird niemand den Boykottaufrufen folgen.

Die grösste Bedrohung für Musk ist indes nicht Apple, sondern die EU.

Musks Endspiel mit der EU

Die EU verlangt von grossen Internetplattformen wie Facebook, YouTube und vermutlich auch Twitter, dass sie konsequenter und schneller als bislang gegen Hassrede, Desinformation oder Kriegspropaganda vorgehen und illegale Inhalte zeitnah löschen. Die EU will Twitter daher laut «Financial Times» verstärkt unter die Lupe nehmen. Brüssel befürchtet vermehrt Probleme mit Fake-Profilen und Fake News, da Twitter Tausende Temporärarbeiter geschasst hat, die darauf spezialisiert waren, politische Falschinformationen aufzuspüren.

Unter Musk verlor Twitter sein komplettes Büro in Brüssel. Das kleine Team war dafür zuständig, die Einhaltung der Digitalregelungen der EU sicherzustellen, die teils eben erst in Kraft getreten sind. Gleichzeitig verlor die EU über Nacht ihre Ansprechpartner bei Twitter, da diese entlassen wurden oder selbst den Hut nahmen.

Brüssel warnte Musk bereits im April unmissverständlich: «Es sind nicht deine Regeln, die hier gelten.»

Das war keine leere Drohung.

Das neue EU-Digitalgesetz ermöglicht den Regierungen, grosse Online-Plattformen zu verpflichten, genügend Personal für die Moderation der User-Beiträge bereitzustellen. Andernfalls drohen regelmässige Bussen bis hin zu einem Verbot in der EU. Ungewiss ist laut netzpolitik.org aber noch, ob Twitter in der EU wirklich als grosse Online-Plattform klassifiziert wird und somit die strenge Regulierung wirksam wird oder ob für Twitter die laxeren Regeln gelten wie für kleinere, weniger bedeutende Plattformen.

«Absolutist der Meinungsfreiheit»

Musk bezeichnet sich als «Absolutist der Meinungsfreiheit» und vertritt dabei eine ähnliche Auffassung von Redefreiheit, wie sie Facebook-Chef Mark Zuckerberg lange vertrat. Was nicht ausdrücklich gesetzlich verboten ist, soll geduldet werden. Tech-Konzerne geben so die Verantwortung ab und sparen Kosten, da sie weniger Inhalte-Moderation benötigen. Kritiker werfen Musk deshalb vor, das soziale Netzwerk ohne ausreichende Moderation in einen Nährboden für Hass und Radikalisierung zu verwandeln.

Musk hält dagegen, dass Twitter aus seiner Sicht in den vergangenen Jahren zu sehr die Redefreiheit eingeschränkt habe. Twitter war in den vergangenen Jahren immer konsequenter gegen Hassrede, Gewaltaufrufe und falsche Informationen, etwa zum Coronavirus, vorgegangen. Nach der Übernahme durch Musk geht Twitter nicht mehr gegen Falschinformationen zum Coronavirus vor. Die entsprechenden Massnahmen wurden bereits am Mittwoch vergangener Woche gestoppt.

«Elon Musk begann seine Twitter-Herrschaft mit der Erklärung, dass ‹Comedy wieder legal ist›. Jetzt scheint es so, als wäre fast alles erlaubt», resümiert Platformer.

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188 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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International anerkannter Experte für ALLES
29.11.2022 18:48registriert Juli 2021
Hach Elon. Ich dachte ehrlich mal, du wärst ein Guter.

Selten so getäuscht. Und enttäuscht. 🥺
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Macrönli
29.11.2022 18:31registriert April 2018
Ich halte ihn für ultra gefährlich.
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Macca_the_Alpacca
29.11.2022 19:28registriert Oktober 2021
Unmoderierte Plattformen laufe immer aus dem Ruder. Erinnert sich noch jemand an den Windows Live Messenger Chat? So um die Jahrtausendwende war der richtig gut, verkam dann aber zu einem Hort von Rechtsradikalen und Pädophilen, da er nicht ausreichend moderiert war. Was dann passiert ist ganz einfach, wer es satt hat andauern von irgendwelchen Spinnern angemacht zu werden, der verlässt den Chat und sucht sich was Besseres. Musk wird genau diese Erfahrungen machen.
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