Es gibt nicht vieles, auf das man sich heutzutage noch verlassen kann. Der grippale Infekt kurz vor dem sieben Monate im Voraus gebuchten USA-Urlaub, er gehört auf jeden Fall zu den Top 5.
Pünktlich wie die SBB holt er einen spätestens ab Tag 3 zurück ins Bett und verdeutlicht einmal mehr die natürliche Gewalt der Streptokokken. Mensch, was bist du auch für ein verwundbares Tier.
Was zwischen dem Ende der Seuche und dem Moment passiert, an dem man «es» bemerkt, habe ich in diesem Krankheitstagebuch festgehalten.
Gewidmet allen Leidensgenossinnen und -genossen.
Du fragst dich, was das für ein Kratzen in deinem Hals ist. Darf man damit raus gehen? Kann eigentlich nicht wahr sein, dieses Kratzen, ist bestimmt nur vorübergehend. Also, du bist ja schliesslich sonst auch nie krank und gestern ging es dir noch tadellos. Das Immunsystem wird es richten.
Denkst du.
Alles wie gestern, nur schlimmer. Du sortierst die Medikamente im Badezimmerschrank nach Haltbarkeitsdatum. Kann man das noch einwerfen? Soll ich wirklich zuhause bleiben?
Abends hast du eine Verabredung mit Emil, für die du deine letzte Würde geopfert hast. Absagen unmöglich. Also, sicher nicht wegen diesem bisschen Hals- und Ohrenweh. Morgen ist es vorbei.
Ganz bestimmt!
Morgen ist es dann jedenfalls nicht vorbei gewesen, sondern eher zu einer mittelschweren Angina fortgeschritten. Um das Theaterstück mit den nackten Menschen im Keller zu überstehen, hast du dir gestern präventiv zwei Schmerztabletten gegönnt. Dort unten haben sie dann noch stärker geschwitzt als du auf Paracetamol – und das soll was heissen.
Später wart ihr dann noch eins trinken. Hättest du dir sparen können, das ganze Prozedere. Getränk bestellen, Getränk hochheben, zum Mund führen, verführerisch Lächeln trotz der pochenden Mandeln in deinem zuckersüssen Rachen. Autsch!
Nein, Fieber ist es bestimmt keines, was dir diese Gänsehaut beschert. Also, bis jetzt nicht.
Zuhause Fieber messen. 37,6. Geht ja noch so gerade. Die Nachtruhe wird es richten.
38,2. Die Nachtruhe hat es nicht gerichtet. Nach zwölf komatösen Stunden wachst du schweissgebadet auf und fühlst dich totgeboren. Du konfrontierst dich endlich mit der Realität und siehst ein, dass du krank bist. Also, so richtig. Es ist das widerlichste Gefühl, das du bei 30 Grad im Schatten kennst. Also, abgesehen von Sonnencreme mit Sandpartikeln auf deiner frischepilierten Haut.
Erstmal Netflix mit dem Passwort deines Ex-Freunds anschmeissen, die neue Staffel «Master Of None» kommt dir jetzt wirklich gelegen. Zwei Stunden später wachst du mit verklebtem Rachen auf und merkst, dass du nichts mehr im Kühlschrank hast.
Du schälst dich aus deinem Nachthemd hinein ins bequemste Kleid, spuckst etwas aus, das dich entfernt an Lungengewebe erinnert (warum ist das so rot?) und schleppst deinen schweren Körper die Treppen hinab wie bei einer durchzechten Nacht. Zurück im Bett wirst du neben Schokobons und Erdbeeren ohnmächtig.
Morgen dann aber wirklich Arzt.
Das erste Open-Air des Jahres? Verpasst. Das Grillen am Sonntag? Verpasst. Kino unter Sternen? Nope, nicht für dich.
Statt dem neuen Body hast du seit drei Tagen dasselbe grüne Schlaf-T-Shirt an, das sie dir 2010 im Volleyballlager geschenkt haben und fragst dich, warum du noch nicht gestorben bist.
Es gibt keinen demütigenderen Moment, als mit 38,2 Grad Fieber um 8.30 Uhr mit 25 anderen Kranken vor einer verschlossenen Arztpraxis zu stehen und seine Mandeln pulsieren zu hören. Du glaubst, irgendjemand lässt dich trotz deines Leichenzustandes und dem Vogelnest auf dem Kopf vor. Dem ist dann nicht so. Immer schön hinten anstellen, Madame.
Denn: Vorschrift ist Vorschrift und Warten heisst auch dann noch warten, wenn einem währenddessen ein Bein abfällt. Als du endlich drinnen stehst, fängst du an zu heulen wie ein 3-jähriges Kind. WO ist deine Mutter, herrgottnochmal. Kann dich irgendjemand bitte ins Wartezimmer tragen? Erwachsensein kann so erbärmlich sein.
Eine Stunde später bist du mit stärkeren Antibiotika versorgt als ein durchschnittliches Supermarkthuhn und fragst dich, wie Menschen überhaupt älter als 30 Jahre werden können, wenn es gleichzeitig Zustände wie diese gibt, in denen man an seinem eigenen Schleim erstickt.
Angesichts deiner Fieberzustände hast du das Antibiotika als letzte Ausflucht dankbar in Kauf genommen, um irgendwann wieder unter den Lebenden zu weilen. FOMO (Fear of missing out = Die Angst, etwas zu verpassen) wird dein neuer Endgegner.
Tag 6 – fast noch genauso scheisse wie Tag 5, nur ohne der grenzenlosen Hoffnungslosigkeit. Der Schleim, er fliesst jetzt halsaufwärts und findet seinen Weg aus deinem Körper. Alles, was du tun kannst, ist Netflix, Fertigpizza, Lutschtabletten – in dieser Reihenfolge. Und natürlich ganz viel Tee!
Wer Wasser trinkt, befeuchtet seinen Hals, muss aber gleichzeitig doppelt so oft aufs Klo. Es sind die ganz grossen Entscheidungen, die man in den Tagen der absoluten Isolation mit sich selbst ausmachen muss.
Ein Hoch auf die moderne Medizin! Das Antibiotika entfaltet seine volle Wirkung und nimmt den Druck aus deinem linken Ohr. Du kannst sogar wieder telefonieren! Ganz angenehm so, ohne das Quietschen. Tag 7 zeichnet sich auch dadurch aus, dass du den Krankenstand langsam ganz geil findest und literweise Ben and Jerry's löffelst. Wann kannst du schon in hektischen Zeiten wie diesen absolut gar nichts tun, ohne dich dabei bei Freunden, Verwandten oder dir selbst zu entschuldigen? Eben.
Spätestens ab Tag 7 fängt auch die Zeit an, in der du wieder aufrecht Käsebrot im Bett essen kannst, ohne das Gefühl zu haben unter der Schwere deines Oberkörpers einzubrechen.
Sehr witzig, Elena!
Deine Fantasie erfreut sich mittlerweile an allem, das nicht an knielange Nachthemden und Cortisolinfusionen erinnert. Du bist druffer als jeder Raver um 15 Uhr im Berghain und fragst dich, wer seinem Körper so etwas freiwillig antut.
Also, wäre da nicht diese unbändige Lebenslust, die dich an eine Existenz ausserhalb deiner vier Wände erinnert und dir Hummeln in den Arsch pflanzt, für später.
Eine Weile hält er ja zum Glück noch an, der Sommer.