Am 25. Juni 1983 wurden in Luzern ein Vater, eine Mutter, eine Tochter und ein Sohn im See ertränkt. Symbolisch versteht sich. Denn zum Anlass der sechsten Luzerner Pride wollten Schwule und Lesben zeigen, dass sie den ganzen Kitsch um die Ehe- und Familiengründung gar nicht interessiert.
Während des Umzugs wurde das Konzept der Familie in einem hölzernen Sarg zu Grabe getragen. «Wir Homos haben keinen Bock, hetero zu spielen», lautete das Motto der Aktivisten während sie das ihrer Meinung nach antiquierte Gesellschaftskonzept im Vierwaldstättersee versenkten.
Ende Juni 1985, zwei Jahre nach der provokativen Aktion gegen die spiessbürgerliche Gesellschaftsordnung, zogen Schwule und Lesben ihren trotzend in die Luft gestreckten Mittelfinger wieder ein. Der Grund: HIV. Die Blutproben von ungefähr dreitausend Männern und siebenhundert Frauen gaben an, mit dem HI-Virus infiziert zu sein. Viele der Betroffenen waren homosexuell.
Der Virus platzte mitten in eine eng verknüpfte Community. Junge Menschen, die sich noch meilenweit vom Tod entfernt sahen, mussten sich nun damit befassen, dass sie selbst, ihre Partner und viele ihrer Freunde in absehbarer Zeit sterben konnten. Unschöne Einsichten zu knallharten Lebensrealitäten donnerten in ihr Bewusstsein.
So kamen Themen auf den Tisch, mit denen sich ein junger, gesunder Mensch niemals freiwillig befassen würde: Wie erhalte ich als schwule oder lesbische Person im Spital Auskunft über den Zustand meiner Freundinnen und Freunde? Werde ich informiert, wenn jemand aus meinem Umfeld stirbt? Und weiter: Darf ich die Beerdigung meines Partners gestalten oder übernimmt das seine Familie, mit der er seit Jahren zerstritten ist? Kann ich meinem Partner mein Vermögen vererben? Und was passiert mit der gemeinsamen Wohnung?
Progressive Aktivistinnen und Aktivisten sahen sich nun gezwungen, sich mit rechtlichen Angelegenheiten auseinanderzusetzen. Aus praktischen, ja sogar aus existenziell notwendigen Gründen, formulierten sie rechtliche Ansprüche, die sie wenige Jahre zuvor noch als spiessig bezeichnet hatten.
Die erste Forderung für die Öffnung der Ehe war also keineswegs durch eine kitischig-romantische Vorstellung von Homo-Hochzeiten motiviert, sondern war die einfachste Lösung für viele drängende Probleme.
Bis 2005 in der Schweiz das Partnerschaftsgesetz für gleichgeschlechtliche Paare in Kraft trat, blieb diese «einfache Lösung» eine Zukunftsvision. Nach dem Hinschied des Lebenspartners blieben Schwule und Lesben oft ohne ein Erbe ihrer verlorenen Geliebten zurück. Viele mussten sich sogar damit abfinden, dass sie sich von ihren dahingeschiedenen Freunden nicht einmal angemessen verabschieden durften. Es kam nicht selten vor, dass Familien den Partnern und Freunden ihrer verstorbenen, homosexuellen Kindern den Zutritt zum Sterbebett verweigerten und sie nicht am Begräbnis teilhaben liessen.
In vielen Ländern war die letzte Alternative zu solch einem tragischen Lebensende eine Adoption. Der eine Partner adoptierte den anderen, um gesetzlich an erster Stelle des Verwandtschaftsgrades zu stehen. In den USA kam diese Form der umständlichen «Gay-Marriage» bis ins Jahr 2013 zustande.
Cleverer Trick, könnte man sich denken. Doch dieser Beziehungsstatus brachte homosexuelle Verhältnisse auf eine neue Ebene der Illegalität und Einschränkung. Im Gegensatz zum Ehebund ist die Adoption tatsächlich eine ewige Verbindung. Lebenslang ist man durch ihre Rechtsprechung verbandelt; als Mutter und Tochter, beziehungsweise als Vater und Sohn.
Wer sich für also für diesen Beziehungsstatus entschied, beging ständig Tabubrüche und machte sich rechtlich gesehen strafbar: Bei jeder zärtlichen Berührung, bei jedem Kuss, geschweige denn man hatte zusammen Sex. Die Beziehung wurde zum Inzest.
Inzwischen mutierte der Kampf um den rechtlichen Anspruch für die «Ehe für alle» viel mehr zu einem Kampf um Freiheit und um grenzenlose Liebe, als um Angehörigkeiten im Notfall oder um Erbschaftsfragen. Den heutigen Verfechtern geht es darum, dass in einer modernen Welt alle Menschen die selben Optionen haben sollen. Es geht ihnen ums Prinzip.
Ob besagte Option nun eine kitschige Trauung in Weiss oder ein rationaler Entscheid ist, spielt keine so grosse Rolle mehr. Denn sobald sich zwei Frauen, zwei Männer oder zwei Transmenschen verheiraten dürfen, liegt der Sarg mit dem stieren Konzept einer Vater-Mutter-Kind-Familie schon längst vermodert auf dem Grund des Vierwaldstättersees.