Mittwochnachmittag, im Billigkleiderladen einer Kleinstadt. Teenie-Girls wollen sich erwachsen fühlen, probieren Kleider und kaufen ein paar davon. Eines der Teens ist James. Umgarnt von seinen besten Freundinnen lässt er sich einkleiden. Passiv. Röckchen, Cardigan, Spaghettiträger – was ein Mädchen mit 14 eben so zu tragen hat – wurden stapelweise über die Wandkante der Umkleide gelegt. James steht in der Kabine. Allein.
Lethargisch wickelt er seinen pubertierenden Körper, der ihm und seiner Umwelt deutlich macht, dass aus James einmal eine Frau werden soll, darin ein.
Für James sah alles scheisse aus. Dass er ein Mädchen ist, davon war James, der damals noch auf einen anderen Vornamen hörte, völlig überzeugt. Schliesslich wurde er bei seiner Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, es war das Label, das ihm die ganze Welt 14 Jahre lang unaufhörlich einredete. Und er glaubte es. Natürlich. Doch zwischen «ein Mädchen sein» und «wie ein Mädchen sein» liegen Welten. James erkennt sich nicht im Spiegel mit dem Cardigan und den Spaghettiträgern, er kommt sich selber fremd vor und fragt sich: «Was ist falsch mit mir?» – Eine Frage, die viele LGBTs ihr ganzes Leben lang auf subtile Weise begleitet.
Bisexualität war die erste Antwort, die James auf diese Existenz-Frage gefunden hat. «Ich bin nicht falsch, sondern bi», habe er seinem 16-jährigen Spiegelbild gedanklich vorartikuliert. Und schon nur durch diesen Satz, meint James, habe er sich bereits ein klein bisschen weniger fremd in seiner eigenen Haut gefühlt. Bi sei anders als normal, aber nicht falsch, erklärt uns James bei einem Tee. Heute ist James 21 und was er damit sagen will, ist, dass er damals durch seine Bisexualität eine Rechtfertigung dafür gefunden hat, anders zu sein: Frauen zu lieben, Jungskleider anzuziehen, aus der Norm zu fallen.
Es liege ein grosser Unterschied darin, wie man sich selber sieht und wie einem die Welt sieht, erläutert James. Als er sich als bi geoutet hatte, sah die Mehrheit der Typen in ihm das Bild eines bisexuellen Mädchens: Das Bild einer jungen, abenteuerlichen Frau, die mit ihren weiblichen Zügen reihenweise Männer und Frauen verführt. Wenn er sich in seinen jungen Jahren hingegen bei Lesben als bi outete, dann war das Bild ein ganz anderes, viel weniger sexualisiertes. In der Lesbenszene wurde er jeweils sehr schnell als die kleine, noch ganz verwirrte und sehr burschikose Teenagerin abgestempelt, die dann schon noch begreifen wird, dass sie eigentlich homosexuell ist. Als drittes Fremdbild kam dann noch das seiner Eltern ins Spiel, die schwer davon ausgingen, dass das eine Adoleszenz bedingte Phase sei.
James' «Phase» hält aber an. Bisexuell ist er immer noch. Aber inzwischen stellt er sich nicht mehr als bisexuelle Frau, sondern als bisexueller Transmann vor. Und je nach Situation verwendet er zudem die Labels demisexuell, pansexuell, polyamour, non-binary, transmaskulin und vor allem queer, um seine Identität zu beschreiben.
Queer bedeute, so James, dass einem sexuelle und geschlechtliche Kategorien nicht interessieren. Wieso braucht er dann noch all die anderen Begriffe dazu?
Das Label, das James bisher am meisten Denkarbeit abverlangte, heisst «trans». Trans bedeutet für James heute, dass das Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugeordnet wurde, nicht mit der eigenen Geschlechtsidentität übereinstimmt.
Doch hinter dieser Erkenntnis steckt eine grosse Coming-Out-Phase. Lange galten Transmenschen für ihn als Menschen, die tagtäglich leiden, hyperfeminin oder hypermaskulin sein wollten, schon als Kind ihren Körper hassten und sowieso psychisch krank und labil seien. Das war das Bild, das Mitleidsbild, das James aus den Medien kannte. Und mit dem er sich überhaupt nicht identifizieren konnte. Sein offenes Umfeld, das er vor allem bei der Jugendorganisation «Milchjugend» kennenlernte, half ihm aber dabei, diesen Trugschluss zu überwinden.
Die Möglichkeit, selber trans zu sein, schien James immer plausibler. Sein Unbehagen mit seinem eigenen Spiegelbild nahm er zunehmend ernster, reflektierte es, verwarf es wieder, verzweifelte an ihm und führte darüber Tagebuch. Darin schrieb er an Silvester 2016:
Am 1. März 2017 schreibt James auf Facebook:
James hat sich entschieden, sein Unbehagen nicht mehr in sich hineinzufressen, sondern offen mit ihnen in Kontakt zu treten. Dazu brauchte er ein weiteres Coming-Out. Einen weiteren Blick in den Spiegel begleitet von seiner inneren Stimme, die ihm sagt, was er ist: Trans, non-binär, gay, whatever. Hauptsache nicht allein und nicht nichts.
Doch gerade wenn es ums Geschlecht geht, dann reicht das Diskutieren mit dem Spiegelbild allein nicht aus. Denn wie James sagt:
Überall heisst in diesem Kontext an der Universität, in der Arztpraxis, im Schwimmbad, in der Garderobe, am Familienfest, beim Bewerbungsgespräch, auf dem Flugticket, im Friseur-Salon, auf der öffentlichen Toilette, im Ganzkörperspiegel der Umkleidekabine eines Billigkleiderladens.
Sich ständig und überall zu outen, braucht sehr viel Energie. Manchmal habe man einfach keinen Bock darauf, meint James und lässt es sein. Schweigt für sich und lässt sich als Frau oder sonst was ansprechen, das man nicht ist. Aber solange er sein Spiegelbild betrachten kann und mehr von sich selbst, als einer fremden Person sieht, hat er Mut. Mut daran weiterzuarbeiten, dass sich auch das gesellschaftliche Spiegelbild irgendeinmal weiter entwickeln wird. Zum Beispiel zu einem, in dem nichts mehr aktiv rauskommen muss, weil sich ohnehin schon alles draussen abspielen darf.
In dem Sinne einen schönen internationalen Coming-Out-Day allerseits!