Nebel
DE | FR
Leben
International

Die Sang-Jugend Chinas hat genug vom Ehrgeiz

Kein Bock auf Karriere: Asiens Jugend verabschiedet sich vom Ehrgeiz

public domain
In einer Gegenbewegung zur stromlinienförmigen Karriere-Autobahn mit Neun-Stunden-Tagen und Anzug sucht ein wachsender Anteil der asiatischen Jugend sanfte Momente der Ruhe und Augenblicke des Glücks.  
20.07.2017, 19:5722.07.2017, 01:30
Mehr «Leben»


Chinas Jugend hat genug.

Genug von 14-Stunden-Tagen im Büro. Genug von dem Druck die Eltern überflügeln zu müssen, die Welt zu verändern, die Gesellschaft zu revolutionieren. Die Mechanismen des Kapitalismus haben längst Einzug gehalten und die kommunistische Ideologie ausgehöhlt. Der neue Klassenkampf schimmert nur noch rötlich, wenn man die Augen zusammenkneift.

Erfolge, die zur persönlichen Freiheit beitragen sollten, die Insignien der Sicherheit – sie werden genau wie im neoliberalen Westen über monetäre Werte definiert. Und ebenso wie im Neoliberalismus wurde der politische Bürger vom im Supermarkt entscheidenden Konsumenten abgelöst. Doch in einem System, das darauf beruht, dass mittels Kaufkraft Einfluss genommen wird, muss diese Kaufkraft erstmal hergestellt werden. Allerdings wird genau das immer schwieriger. In China kämpfen eine Milliarde Menschen um einen Platz an der Sonne. Japans Wirtschaft hat sich noch immer nicht von der Baisse der frühen Neunziger erholt. Taiwans Jugend bleibt angesichts einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft lieber zuhause als sich in einem kompetitiven Ausbildungsumfeld aufzureiben.

Bild
public domain

Asiens Kinder wuchsen auf mit dem Mantra, dass durch Ausbildung, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit alles zu erreichen sei. Dass wer scheitere, nicht hart genug gearbeitet habe. Doch wenn wir in der Konfrontation mit den wirtschaftlichen Geschehnissen der letzten Jahre eines gelernt haben, dann, dass finanzielle Erfolge vergänglich sind und immer wieder eine allzu kurze Halbwertszeit besitzen. Was ist, kann über Nacht verschwinden. Und die Gatekeeper an der Schwelle zur Spitzenposition selektionieren härter und willkürlicher als die Tür des Berghain. Tausende Akademiker, geförderte Einzelkinder und unbeirrbare Arbeitstiere müssen lernen, damit umzugehen, dass es für sie niemals reichen wird. Dass was aussah wie eine Karriereleiter, tatsächlich nur ein Hamsterrad ist und bleiben wird.

public domain

Xiaoquexing 小确幸

In diese Frustration, diese Resignation mischt sich ein sentimentaler Wunsch nach Xiaoquexing, nach flüchtigen Momenten des Glücks. Diese Momente werden beschrieben mit dem Dampf, der von einem bäckerfrischen Baguette aufsteigt. Mit dem Fallen des Laubs zu einer Fuge von Beethoven. Eine Sehnsucht, die bereits mit einem eigenen Wort in der chinesischen Seele verewigt wurde.

«Eine neue Gruppe chinesischer Jugendlicher bezieht sich auf eine geläuterte Variante konfuzianischen Denkens. [...] Und in der Bildung einer friedlicheren Gegenwart finden sie Trost vor einer ultra-materialistischen Gesellschaft.»
Dr. Geeta Kochhar, Chinesische Akademie für Sozialwissenschaftenchinadaily.com.cn

Wenyi Nianqing 文艺年轻

Die Überhöhung dieser Empfindung manifestiert sich aktuell in einer neuen Jugendbewegung, die zu erfassen sich selbst chinesische Beobachter noch schwer tun. In einem Zwischenschritt entstand die sogenannte Gruppe der Wenyi Nianqing oder Wenqing. Quasi das Pendant zum europäischen Hipster. Kulturell orientiert interessieren sie sich für Literatur, Poesie und Musik. Sie streben danach, sich abzuheben, sind trendy und teilweise ökologisch ambitioniert. Bereits in den 80er-Jahren gab es eine ähnliche Strömung, damals als Wenxue qingnian bezeichnet. Der markanteste Unterschied zu damals ist das völlige Desinteresse an Politik. Damals ging nämlich noch der Wunsch zur Veränderung der Gesellschaft und zur politischen Selbstbestimmung mit der intellektuellen und poetischen Unabhängigkeit einher.

Das hat sich geändert.

public domain

Arbeitsethik: Null

Die Sang-Jugend geht allerdings noch viel weiter. Sie zeichne sich gemäss Schriftsteller Yuli durch einen Mangel an Motivation aus, sie lege ein apathisches Benehmen an den Tag und habe keine Arbeitsethik mehr übrig.

Aus diesem Trend haben sich auch bereits Filme entwickelt. In «Moratorium in Tamako» zieht ein junges Mädchen nach Abschluss ihrer Ausbildung wieder zu ihrem Vater und verbringt ihre Tage ausschliesslich damit, im Schlafanzug durch die Wohnung zu laufen, zu essen und die Jahreszeiten zu verschlafen. «Setoutsumi» beschreibt zwei Jungs, die sich jeden Tag nach der Schule auf einer Treppe treffen und reden. Nur reden. Sie verstehen nicht, wofür sie ständig kämpfen sollen, wenn diese ruhigen Momente der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Anderen dadurch nicht mehr möglich werden.

Setoutsumi – Eine Jugend ohne Handlung

«Eine wachsende Zahl junger Menschen bezeichnet sich selbst als ‹Sang›. Sie finden, es sei unnütz, traditionellen Vorstellungen von Erfolg nachzujagen.»
Zeng Yuli, Schriftstellersixth tone

Moratorium in Tamako

Moratorium in Tamako, japan, Jugendbewegung, sang, asien, kino
Bild: bitters.co.jp

Lebenskompetenz: Null

Der japanische Soziologe Atsushi Miura hat für diese Jugendlichen den Begriff Karyū Shakai geprägt. Bereits 2005 hat er damit begonnen, diesen Trend der Abwendung von der Zukunft zu beschreiben. Er beobachtete unterdurchschnittliche kommunikative Fähigkeiten, mangelnde Lebenskompetenzen, null Motivation zu lernen und kein Interesse am Konsum.

«Ich mag nichts an mir. Nichts davon bin ich. Was soll ich tun? Ich weiss nicht, was ich tun soll. Bin ich verloren? Bist du verloren? Sind wir alle verloren?»
bild: courtesy of Wang gang / vcg

Politisches Interesse: Null

Und auch in Taiwan bleibt die Jugend den politischen Wahlen unterdessen kollektiv fern. Die Entwicklung des politischen Konstrukts Demokratie zu einer neoliberalen Konsumgesellschaft stellt die Bedeutung der Partizipation zunehmend in Frage. Und die Apathie der nächsten Generation von Wählern gefährdet unterdessen die Legitimität politischer Vorgänge. Junge Menschen in Taiwan haben Zugang zum besten Bildungssystem, das die Insel jemals kannte. Aber sie werden mit einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft konfrontiert. Sie werden ihr Arbeitsleben in einem Zeitalter rapid fortschreitender technologischer Entwicklungen verbringen, müssen aber auch die negativen Auswirkungen der Globalisierung ertragen. Das Leben in diesen zwiespältigen Zeiten, unter Bedingungen, die sich auch noch so krass von denjenigen früherer Generationen unterscheiden, zieht so seine zwangsläufigen Konsequenzen nach sich.

Unsicherheit, Unzufriedenheit und Resignation im Angesicht aktueller gesellschaftlicher wie politischer Auswüchse machen sich auch im Westen breit.

Ist die Entwicklung in Asien ein Blick in unsere Zukunft oder doch nur eine weitere skurrile Randnotiz?

In China sind sie viele: 

1 / 48
Wenn du denkst, deine Badi ist jetzt schon zu voll, …
Wenn du diese Fotos gesehen hast, freust du dich sogar darüber, wenn dein Nachbar nur seinen Fuss auf dein Badetuch legt! Als Bonus ist auf jedem Wimmelbild eine gelbe Quietschente versteckt. Findest du sie? Im Bild: Haeundae Beach in Busan, Südkorea. (EPA/YNA)
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Man kann ja verstehen, warum da Politik nicht mehr sinnvoll wirkt: Auseinandersetzung im Parlament von Hong Kong ...

Video: reuters

Mehr zum Thema Leben gibt's hier:

Alle Storys anzeigen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
42 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Majoras Maske
20.07.2017 21:58registriert Dezember 2016
Als ob es diese Empfindungen bei uns nicht geben würde.
653
Melden
Zum Kommentar
avatar
Oh Dae-su
20.07.2017 20:42registriert Mai 2017
Als ich noch in Japan gelebt habe, fand ich vor allem erschreckend, wie wenig sich meine Altersgenossen für die Politik ihres Landes interessierten. Auch hatten viele eine sehr negative Meinung über die Zukunft und teilweise auch über das Leben in Japan selbst. Ich fand das irgendwie Paradox, denn indem sie die Politik den Alten überlassen, ermöglichen sie ja genau, dass rückwärtsgewandte Regierungen an die Macht kommen und auch bleiben.
636
Melden
Zum Kommentar
avatar
Don Alejandro
20.07.2017 20:56registriert August 2015
Richtig so.
553
Melden
Zum Kommentar
42
Toxische Weiblichkeit: Mit diesem Verhalten schaden Frauen sich selbst und anderen
Nicht anecken, immer hübsch freundlich bleiben und dafür sorgen, dass es allen anderen gut geht: Das sind für Autorin Sophia Fritz typische Verhaltensweisen von toxischer Weiblichkeit. Sie hat ein unbequemes Thema angepackt – und schont sich dabei selber nicht.

Männer, die ihrem Gegenüber die Welt erklären. Männer, die sich bei Problemen keine Hilfe holen oder Männer, die Konflikte mit Gewalt lösen. Viel wurde in den vergangenen Jahren über die toxische Männlichkeit debattiert. Der Begriff beschreibt männliche Verhaltensmuster, die von Dominanz, Macht und Aggressivität geprägt sind und in patriarchalen Rollenbildern wurzeln. Toxische Männlichkeit gilt sowohl als fremdgefährdend – etwa in Form von Gewalt gegen Frauen – und als selbstgefährdend, indem der eigenen Gesundheit nicht Rechnung getragen wird.

Zur Story