Chinas Jugend hat genug.
Genug von 14-Stunden-Tagen im Büro. Genug von dem Druck die Eltern überflügeln zu müssen, die Welt zu verändern, die Gesellschaft zu revolutionieren. Die Mechanismen des Kapitalismus haben längst Einzug gehalten und die kommunistische Ideologie ausgehöhlt. Der neue Klassenkampf schimmert nur noch rötlich, wenn man die Augen zusammenkneift.
Erfolge, die zur persönlichen Freiheit beitragen sollten, die Insignien der Sicherheit – sie werden genau wie im neoliberalen Westen über monetäre Werte definiert. Und ebenso wie im Neoliberalismus wurde der politische Bürger vom im Supermarkt entscheidenden Konsumenten abgelöst. Doch in einem System, das darauf beruht, dass mittels Kaufkraft Einfluss genommen wird, muss diese Kaufkraft erstmal hergestellt werden. Allerdings wird genau das immer schwieriger. In China kämpfen eine Milliarde Menschen um einen Platz an der Sonne. Japans Wirtschaft hat sich noch immer nicht von der Baisse der frühen Neunziger erholt. Taiwans Jugend bleibt angesichts einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft lieber zuhause als sich in einem kompetitiven Ausbildungsumfeld aufzureiben.
Asiens Kinder wuchsen auf mit dem Mantra, dass durch Ausbildung, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit alles zu erreichen sei. Dass wer scheitere, nicht hart genug gearbeitet habe. Doch wenn wir in der Konfrontation mit den wirtschaftlichen Geschehnissen der letzten Jahre eines gelernt haben, dann, dass finanzielle Erfolge vergänglich sind und immer wieder eine allzu kurze Halbwertszeit besitzen. Was ist, kann über Nacht verschwinden. Und die Gatekeeper an der Schwelle zur Spitzenposition selektionieren härter und willkürlicher als die Tür des Berghain. Tausende Akademiker, geförderte Einzelkinder und unbeirrbare Arbeitstiere müssen lernen, damit umzugehen, dass es für sie niemals reichen wird. Dass was aussah wie eine Karriereleiter, tatsächlich nur ein Hamsterrad ist und bleiben wird.
In diese Frustration, diese Resignation mischt sich ein sentimentaler Wunsch nach Xiaoquexing, nach flüchtigen Momenten des Glücks. Diese Momente werden beschrieben mit dem Dampf, der von einem bäckerfrischen Baguette aufsteigt. Mit dem Fallen des Laubs zu einer Fuge von Beethoven. Eine Sehnsucht, die bereits mit einem eigenen Wort in der chinesischen Seele verewigt wurde.
Die Überhöhung dieser Empfindung manifestiert sich aktuell in einer neuen Jugendbewegung, die zu erfassen sich selbst chinesische Beobachter noch schwer tun. In einem Zwischenschritt entstand die sogenannte Gruppe der Wenyi Nianqing oder Wenqing. Quasi das Pendant zum europäischen Hipster. Kulturell orientiert interessieren sie sich für Literatur, Poesie und Musik. Sie streben danach, sich abzuheben, sind trendy und teilweise ökologisch ambitioniert. Bereits in den 80er-Jahren gab es eine ähnliche Strömung, damals als Wenxue qingnian bezeichnet. Der markanteste Unterschied zu damals ist das völlige Desinteresse an Politik. Damals ging nämlich noch der Wunsch zur Veränderung der Gesellschaft und zur politischen Selbstbestimmung mit der intellektuellen und poetischen Unabhängigkeit einher.
Das hat sich geändert.
Die Sang-Jugend geht allerdings noch viel weiter. Sie zeichne sich gemäss Schriftsteller Yuli durch einen Mangel an Motivation aus, sie lege ein apathisches Benehmen an den Tag und habe keine Arbeitsethik mehr übrig.
Aus diesem Trend haben sich auch bereits Filme entwickelt. In «Moratorium in Tamako» zieht ein junges Mädchen nach Abschluss ihrer Ausbildung wieder zu ihrem Vater und verbringt ihre Tage ausschliesslich damit, im Schlafanzug durch die Wohnung zu laufen, zu essen und die Jahreszeiten zu verschlafen. «Setoutsumi» beschreibt zwei Jungs, die sich jeden Tag nach der Schule auf einer Treppe treffen und reden. Nur reden. Sie verstehen nicht, wofür sie ständig kämpfen sollen, wenn diese ruhigen Momente der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Anderen dadurch nicht mehr möglich werden.
Der japanische Soziologe Atsushi Miura hat für diese Jugendlichen den Begriff Karyū Shakai geprägt. Bereits 2005 hat er damit begonnen, diesen Trend der Abwendung von der Zukunft zu beschreiben. Er beobachtete unterdurchschnittliche kommunikative Fähigkeiten, mangelnde Lebenskompetenzen, null Motivation zu lernen und kein Interesse am Konsum.
Und auch in Taiwan bleibt die Jugend den politischen Wahlen unterdessen kollektiv fern. Die Entwicklung des politischen Konstrukts Demokratie zu einer neoliberalen Konsumgesellschaft stellt die Bedeutung der Partizipation zunehmend in Frage. Und die Apathie der nächsten Generation von Wählern gefährdet unterdessen die Legitimität politischer Vorgänge. Junge Menschen in Taiwan haben Zugang zum besten Bildungssystem, das die Insel jemals kannte. Aber sie werden mit einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft konfrontiert. Sie werden ihr Arbeitsleben in einem Zeitalter rapid fortschreitender technologischer Entwicklungen verbringen, müssen aber auch die negativen Auswirkungen der Globalisierung ertragen. Das Leben in diesen zwiespältigen Zeiten, unter Bedingungen, die sich auch noch so krass von denjenigen früherer Generationen unterscheiden, zieht so seine zwangsläufigen Konsequenzen nach sich.
Unsicherheit, Unzufriedenheit und Resignation im Angesicht aktueller gesellschaftlicher wie politischer Auswüchse machen sich auch im Westen breit.
Ist die Entwicklung in Asien ein Blick in unsere Zukunft oder doch nur eine weitere skurrile Randnotiz?