Was heisst eigentlich Girl? Fest steht: Ein Girl ist weiblich und jung und sicher noch keine gesetzte Frau. Es ist wilder, anarchischer, zugleich aber zarter und gefährdeter. Lockstoff für die Liebe, das Böse und das Unberechenbare. Ideal zum Beispiel für einen Thriller. Schauen wir mal nach: Auf Amazon finden sich gut 4000 Thriller für Erwachsene mit dem Wort «Girl» im Titel. 4000!
Seltsam nur, dass die meisten Heldinnen, die gerade massiv erfolgreich mit dem Label «Girl» verkauft werden, die 20 oder 30 schon längst überschritten haben. Und äusserst selten schwach oder irgendwie niedlich sind. Aber auf unterschiedliche Weise tatsächlich sehr unberechenbar und dadurch interessant. Als stünden Heidi Klums sackbrave Model-«Meedchen» unter Crack.
Wer also ist dieses Girl? Eine Frau minus Verantwortung, Abhängigkeit, Familie und oft auch Job. Eine Frau in Freiheit. Eine Lieblingsfiktion. Wir präsentieren euch einige der beliebtesten Girls aus Literatur, Film, Fernsehen und Musik der letzten Jahre bis heute.
Diese vier sind die derzeit unangefochtenen Heroinnen des kriminalistischen Girlbooms auf dem Buchmarkt.
Der schwedische Autor Stieg Larsson sagte einmal, die Hackerin Lisbeth Salander sei seine Vorstellung einer erwachsenen Pippi Langstrumpf. Okay, einer äusserst traumatisierten, immer wieder gebrochenen Pippi Langstrumpf mit autistischer Tendenz, feministischer Wut und phänomenalen IT-Kenntnissen. Neben dem Journalisten Mikael Blomkvist wurde sie zur Superheldin von Larssons Millenium-Trilogie, die sich bis heute über 63 Millionen Mal verkaufte.
Zum Cover-Girl, das die literarische «Girl»-Welle lostrat, wurde sie allerdings erst 2008 in der englischen Übersetzung. Und weil die Leute sie trotz des Ablebens von Larsson nach drei Bänden immer noch zu sehr lieben, erscheint im Herbst 2017 bereits Band 5 (wie Band 4 verfasst von David Lagercrantz): «The Girl Who Takes an Eye for an Eye».
«Gone Girl» von Gillian Flynn zeigt aufs Grossartigste, was gelangweilten Hausfrauen alles einfallen kann. Dinge nämlich, die an Entsetzlichkeit nicht zu überbieten sind. Vor 100 Jahren hätte man eine wie sie «Femme fatale», aber gewiss nicht Girl genannt. Der Roman verkaufte sich über 15 Millionen Mal. Die Verfilmung stammt – wie schon beim amerikanischen Remake von «The Girl With the Dragon Tattoo» – von David Fincher.
Über 11 Millionen verkaufter Bücher und ein sagenhaft guter Filmdeal katapultierten die Autorin Paula Hawkins innerhalb eines Jahres (und mit nur einem Buch!) auf Platz 9 der bestverdienenden Autoren der Welt. Vor ihr befinden sich Namen wie James Patterson (1), J.K. Rowling (3), John Grisham (4), Stephen King (5) und E.L. James (8). Leider merkt man ihr die Tendenz zur Copy-Cat im Fahrwasser von Gillian Flynn zu gut an.
Emma Clines Roman erscheint dieser Tage auf Deutsch (auch unter dem Titel «The Girls») bei Hanser. Kauft es, falls ihr es nicht schon auf Englisch gelesen habt, es ist fantastisch! So sehr, dass die 25-Jährige 2 Millionen Dollar Vorschuss dafür einheimste.
Die Handlung: Ein tollkühnes Teenie-Mädchen gerät in den Bann und die Kommune eines Hippie-Gurus, der Charles Manson nachempfunden ist. Entsprechend böse nimmt die Geschichte ihren Lauf.
Hier ein minimaler Einblick in die neuen «Girl»-Thriller 2017.
Schon vor 30 Jahren gibt es eine «Girl»-Welle. Ihre Vertreterinnen sind jung, wild, laut, lustig, aggressiv, bunt, kritisch und feministisch. Sie tragen die unglaublichsten Kostüme und sind die fröhlichen und ziemlich direkten Vorfahrinnen von Lisbeth Salander.
Die New Yorkerinnen tragen bis heute Gorilla-Masken und benennen sich nach toten Künstlerinnen. Das Ziel ihrer Aktionen, Recherchen, Ausstellungen ist ganz einfach der Kampf gegen Sexismus und Rassismus in der Kunstwelt.
Den Kampf gegen den Sexismus in der Musikwelt nahmen 1990 im amerikanischen Olympia die ersten Riot Grrrls auf. Sie kommen aus der Punk-Szene, formieren sich in reinen Girlbands und finden bald weltweit Sympathisantinnen. Sie heissen Bikini Kill, Sleater-Kinney, Le Tigre und Beth Ditto. Ihre deutschen Schwestern sind Parole Trixie, die Lassie Singers oder Die Braut haut ins Auge.
Und wer kämpfte gegen allerlei Ungerechtigkeiten, Blödsinn und doofe Macker im Privatleben? Die Spasstruppe aus London natürlich! Kaum zu glauben, aber für viele waren die Spice Girls damals die Initiation, um sich den politisch ernsthafteren Riot Grrrls zuzuwenden. Und die Einstiegsdroge in einen lustvollen Feminismus.
Jeder Trend braucht seine Fiktion, die kurzlebige Comicreihe «Tank Girl» und ihre (finanziell desaströse) Verfilmung schienen perfekt. Eine schrille Amazone brettert mit lauten Maschinen durch die Postapokalypse. Wie «Mad Max: Fury Road», nur schlechter.
Kehren wir noch einmal zu den Büchern zurück. Täuscht der Eindruck, dass vor allem Autorinnen den «Girl»-Hype ausweiden? Hier ein paar aktuelle Zahlen:
Diese Angaben wurden Ende Oktober 2016 aufgrund der 810 populärsten Suchresultate auf der Bücher-Empfehlungsseite Goodreads.com erhoben. Es handelt sich dabei weder um Kochbücher noch um Young Adult Fiction. Der entsprechende Artikel heisst The Gone Girl With the Dragon Tattoo On The Train und ist auf dem Blog FifeThirtyEight erschienen.
Nach dem Motto «Normal ist das neue Langweilig» betritt das Quirky Girl, also das seltsame / schräge / eigensinnige Girl die Bühne des Weltgeschehens. Nicht in Buch-, sondern vor allem in TV-Serien-Form. Denn so ein Quirky Girl muss man sehen und hören können: Es ist meist sehr hübsch, kaschiert das aber gern mit grässlichen Brillengestellen. Es redet immer irrsinnig schnell und selbstreferentiell. Es ist ironisch.
Seine Motorik ist nicht gerade von Anmut durchdrungen, seine Defizite sind ihm nicht peinlich. Es lebt nach ganz eigenen Regeln (Ja, ja, das Pippi-Langstrumpf-Syndrom ...), und gerade das macht es so eroberungswürdig. Sein Accessoire? Cupcakes. Sein Kontostand? Übelst. Es beherrscht die Oberfläche zeitgemässer Konversation am besten, besitzt aber das kindlichste Gemüt aller Girls in dieser Liste. Ist es zukunftstauglich? Kaum.
Hier haben wir ein altes und ein junges Quirky Girl, auch bekannt als Mutter und Tochter beziehungsweise beste Freundinnen. Will man das haben im eigenen Leben? Wirklich?
Mit Zooey Deschanel als herzig verhühnerter WG-Schatz-oder-Schreck namens Jess wurde der Begriff «Quirky Girl» überhaupt erst geboren. Ein Riesenerfolg, der läuft und läuft.
Okay, die beiden sind sowas wie die Banalisierung des Quirky Girl. So simpel mit so schlechten Witzen, dass es auch der besoffenste Mann am Ballermann noch lustig fände. Der Plot: Eine kommt aus der Gosse, die andere aus dem bankrotten Grossbürgertum, zusammen kellnern sie, wollen aber mit Cupcakes gross rauskommen.
Und hier haben wir Lena Dunhams Serie fürs kreative urbane Hipster-Prekariat. Seine Vertreterinnen entwickeln sich aus egoistischen Kuschelschneeflöckchen zu egoistischen Soziopathen. Genau so. Aber trotzdem total liebenswert, weil sooo quirky.
Analog zur Girlband gab und gibt es immer wieder Phänomene, die «Girls» offenbar nur in Gruppen erleben können. Die meisten davon nerven den Rest der Welt gewaltig. Zum Beispiel eine Bachelorette-Party.
Als 1998 «Sex and the City» startete, waren viele Männer starr vor Entsetzen: So also redet ihr Frauen, wenn ihr unter euch seid? Und wir Frauen so: Ähm, ja, schon immer? Und schwupps kreierte irgendwer (wahrscheinlich ein Frauen-Magazin) dafür den Begriff «Girl Talk». Weil man Frauen, die so dreckig reden wie Männer unter der Kasernendusche, ja ein wenig verniedlichen muss.
Ist Taylor Swift eine Nervensäge oder nicht? Täte ihr ein wenig «quirky» gut oder nicht? Was auch immer man von der Sängerin halten mag – sie hat es geschafft, ihren Show-Feminismus erfolgreich mit lauter Topmodels und Schauspielerinnen zu garnieren. Und damit das top geschminkte Gesamtkunstwerk ein bisschen schlagkräftiger und härter klingt, heisst es Squad, also mehr Truppe als Gruppe.
Die guten «Golden Girls», die (Ur-)Grossmütter aller Girls von heute, zeigen uns schon lang, wie lustig so eine Frauen-Alterskommune sein könnte. Da könnten wir dann bis ans Grab quirky sein und im Squad den Girl Talk pflegen und «Gilmore Girls» oder «Girls» schauen und Riot-Cupcakes backen oder so.