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Analyse

Biodiversität: Die Schweiz ignoriert das Problem

Mitglieder von Pro Natura stellen Dominosteine mit Bildern von Tieren und Pflanzen auf, waehrend einer Aktion, die den Dominoeffekt der Biodiversitaetskrise visualisiert, am Montag, 22. Mai 2023 auf d ...
Mit einem «Biodiversitätsdomino» auf dem Bundesplatz machte Pro Natura am Montag auf den Artenschwund aufmerksam.Bild: keystone
Analyse

(Zu) viele verkennen die Gefahr des Artensterbens

Europaweit steht kaum ein Land bei der Biodiversität so schlecht da wie die Schweiz. Ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten sind gefährdet. Bevölkerung und Politik aber tun sich schwer, den Ernst der Lage zu realisieren.
22.05.2023, 17:57
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Der Kontrast konnte kaum grösser sein. Hier eine prächtige Wiese mit Wildblumen in der Orangerie Elfenau, einem Anwesen im Botschaftsviertel von Bern. Insekten schwirren, Vögel zwitschern. Dort der Bundesplatz aus Valser Gneis im Stadtzentrum, eine «Steinwüste», in der einzig die darauf promenierenden Menschen für Leben sorgen.

Diese höchst ungleichen Orte waren am Montag Schauplatz zweier Medienevents zum internationalen Tag der Biodiversität. In der Elfenau präsentierte das Bundesamt für Umwelt (BAFU) seinen neusten Bericht zum Stand der Artenvielfalt. Der Befund ist bedenklich. Ein Drittel der geschätzten 85’000 Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz ist gefährdet.

Wie viele es sind, weiss niemand. Oft wurden sie noch gar nicht erfasst. Dabei hatte der Bundesrat 2012 seine Strategie Biodiversität Schweiz verabschiedet und 2017 einen Aktionsplan vorgelegt. Seither gab es höchstens punktuelle Verbesserungen, etwa in den Wäldern. Der Artenbestand aber ist in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent geschrumpft.

Schlusslicht in Europa

Europaweit steht kaum ein Land bei der Artenvielfalt so schlecht da wie die Schweiz. Nur etwa zehn Prozent der Landesfläche stehen laut der Organisation Birdlife Schweiz unter Schutz. Im EU-Durchschnitt sind es mehr als 25 Prozent. Die Rote Liste der bedrohten Arten gehört gemäss der OECD zu den längsten unter den Industrienationen.

«Die drohende biologische Monotonie bedroht und fordert uns», sagte BAFU-Direktorin Katrin Schneeberger an der Medienkonferenz. Die Biodiversität sei «für unser Überleben unverzichtbar». Das kann man wörtlich nehmen. Selbst die Mikroorganismen, ohne die es kein Leben gibt, sind gemäss der «NZZ am Sonntag» vom Artenschwund betroffen.

Problem wird massiv unterschätzt

Ist das Problem in der Bevölkerung angekommen? Höchstens ansatzweise. Das zeigt eine vor einem Jahr veröffentlichte Umfrage der Organisation Pro Natura. Demnach glauben mehr als 50 Prozent der Befragten, die Biodiversität in unserem Land sei in einem «guten» oder «eher guten» Zustand. Eine vermeintlich intakte Landschaft vermittelt diesen Eindruck.

Katrin Schneeberger, Direktorin des Bundesamts f�r Umwelt BAFU, vor einer Medienkonferenz zum Tag der Biodiversitaet, am Montag, 22. Mai 2023 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
BAFU-Direktorin Katrin Schneeberger vor der Wildblumen-Wiese in der Orangerie Elfenau.Bild: keystone

Bei kaum einem wichtigen Thema klaffen Realität und Wahrnehmung so weit auseinander. Denn Wildblumen-Wiesen wie in der Elfenau sind selten geworden. Wirklich unberührte Landschaften findet man im Schweizer Mittelland kaum noch. Siedlungsdruck, Klimawandel und landwirtschaftliche Nutzung erhöhen den Stress für die Tier- und Pflanzenwelt.

«Wir sind zu langsam»

Das fehlende Bewusstsein in der Bevölkerung ist ein Teil des Problems. Doch auch in der Politik tut sich wenig, obwohl der Bundesrat den Handlungsbedarf erkannt hat. «Wir sind zu langsam, wir haben schon zu viel verpasst», sagte die Freiburger SP-Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel, Präsidentin von Pro Natura, auf dem Bundesplatz.

Mit dem neuen Vorsteher des Umweltdepartements UVEK aber ist kaum Besserung in Sicht. Seit dem Amtsantritt von SVP-Mann Albert Rösti habe sich das Arbeitsklima verändert, und das nicht zugunsten des Umwelt- und Naturschutzes, sagte ein Nationalrat aus dem moderat-bürgerlichen Spektrum gegenüber watson.

Produktion vor Artenschutz

«Rösti meidet die Begriffe Klimakrise und Biodiversität», schrieb die «Schweiz am Wochenende». Auto-, Energie- und Bauernlobby fänden bei ihm ein offenes Ohr, während die BAFU-Experten es schwer hätten. Der SVP-Bundesrat selbst betonte, man müsse den Schutz der Artenvielfalt «so gestalten, dass die Bauern trotzdem produzieren können».

Ernährungssicherheit scheint für den Berner mehr Priorität zu geniessen als Naturschutz. Die Nahrungsmittelproduktion ist wichtig, doch sie hat eine unschöne Kehrseite. Mein persönliches «Erweckungserlebnis» war ein Spaziergang am Sempachersee vor zwei Jahren während des Abstimmungskampfs zur Pestizid- und zur Trinkwasser-Initiative.

Wo sind die Vögel und Insekten?

Die Bauern bekämpften sie vehement. Doch neben den auffälligen Plakaten fiel mir an diesem Tag eines auf: Über und in den Getreidefeldern waren viel weniger Insekten und Vögel zu sehen als früher. Ich kann das beurteilen, denn ich bin in den 1970er-Jahren teilweise in einem Bauerndorf aufgewachsen. Es war eine ziemlich andere Welt.

Der vermeintliche «Bioboom» lenkt davon ab, dass sich die Landwirtschaft intensiviert hat, mit Folgen für die Artenvielfalt. Der Bauernverband wehrt sich mit dem Argument, 19 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche seien für die Biodiversität ausgeschieden. Doch was nützen Hecken, Biotope und Wäldchen, wenn das Leben auf den Feldern «tot» ist?

Abstimmung als Chance

Die BAFU-Befunde lassen sich nicht leugnen, dennoch bekämpft die Bauernlobby in Bern Massnahmen zur Stärkung der Artenvielfalt. Dazu gehört der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats zur Biodiversitäts-Initiative von Pro Natura. Im Nationalrat wurde er bereits abgeschwächt, und in der Sommersession kommt er in den Ständerat.

Der Nationalrat debattiert zu den Agrar-Initiativen: Pestizid-Initiative, Trinkwasser-Initiative
Eine intensive Landwirtschaft fördert die Verarmung der Artenvielfalt.Bild: sda

Dessen Umweltkommission allerdings empfiehlt, gar nicht auf die entsprechende Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes einzutreten, laut dem besagten Nationalrat aufgrund des Lobbyings der «Geld und Gülle»-Allianz von Bauernverband und Economiesuisse. Dabei hatte der Wirtschaftsdachverband den Gegenvorschlag ursprünglich befürwortet.

Sollte er vom Parlament versenkt werden, wäre das ein schlechtes Signal für die Artenvielfalt. Und eine Chance, denn in diesem Fall käme die Volksinitiative zur Abstimmung. Sie wird es wegen des Ständemehrs schwer haben, doch sie kann eine breite Diskussion zu einem Thema auslösen, dessen Brisanz (zu) viele verkennen.

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120 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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sealeane
22.05.2023 18:28registriert November 2017
Ich kaufe möglichst viel in Bio Qualität, bin mir aber auch immer weniger sicher ob wir damit die Artenvielfalt retten.
Und ganz ehrlich fühle ich mich als Konsument hilflos.. auch ich bin in (bzw. auf) den Bergen aufgewachsen, Bienen, Schmetterlinge, Raupen und alles mögliche was kreucht und fleucht gehörte zu meinem Alltag. Heute lebe ich am Stadtrand einer unserer grössten Städte. Ausser hin und wieder ne Fliege oder ne Wespe sieht man kaum noch was. Und selbst wenn ich in den Bergen wandern gehe, ist ein Schmetterling inzwischen zu einem Highlight geworden. Die waren mal fucking Alltag!!
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In per tuts, tuts per in
22.05.2023 18:48registriert Juli 2020
Alle von uns mit Gärten oder Balkonen können etwas beitragen, indem wir z.B. unsere Granitsteinhecken, Robomöherwiesen, Neophytenbepflanzten Balkone so bewachsen, dass die hiesigen Insekten Futterplätze finden.
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Achillea
22.05.2023 18:18registriert April 2021
"Nur etwa zehn Prozent der Landesfläche stehen laut der Organisation Birdlife Schweiz unter Schutz."

Die Biodiversität kann nicht nur in Schutzgebieten gefördert werden. Das es für alles einen Platz geben muss, ist typisch schweizerisches Denken. Wichtig wäre, dass die Biodiversität überall gefördert wird z.B. in Städten, auf Dorfplätzen, in Privatgärten, in der Landwirtschaft usw.

Dazu bräuchte es aber das Mitwirken von Vielen und es würde halt etwas kosten.
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