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Ukraine: Warum die Schweiz nun doch Kriegsopfer aufnimmt

Swiss President Ignazio Cassis, Minister of Foreign Affairs greets participants ahead of the round of national statements, during the Ukraine Recovery Conference URC, Tuesday, July 5, 2022 in Lugano,  ...
Unverschämte Interpretation der Schweizer Neutralität? Bundespräsident Ignazio Cassis musste viel Kritik einstecken.Bild: keystone

Schweiz nimmt nun doch ukrainische Kriegsopfer auf: Wie es zu dieser Wendung kam

Die Schweiz hat sich bereit erklärt, Kriegsopfer aus der Ukraine aufzunehmen. Zuvor wurde berichtet, dass dies aufgrund der Neutralität abgelehnt wurde. watson erklärt, wie das zusammenpasst.
20.07.2022, 19:2321.07.2022, 14:18
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Wer diese Woche die Zeitungen las, konnte meinen: Das journalistische Sommerloch wurde gestopft. Anlass dazu gab eine Recherche der Tamedia-Zeitungen, wonach die Schweiz sich dagegen entschieden hätte, Kriegsverletzte aus der Ukraine aufzunehmen. Die darauffolgende Empörungswelle war perfekt, da die Causa alles enthielt, was Herr und Frau Schweizer zur Empörung benötigen: Heuchelei, Unmenschlichkeit und behördliche Pedanterie – auch bekannt als Tüpflischiisserei.

Ein genauer Blick auf die Hintergründe zeigt jedoch auf, dass die Empörung und das Unverständnis mehr auf einem PR-Flop fussen als auf politischen Fehlentscheiden. Ausgelöst von der Diplomatie, die gegen aussen lieber schweigt, als Missverständnisse zu riskieren – wobei in diesem Fall neue Missverständnisse entstanden. Fakt ist: Die Schweiz weigerte sich nie, verwundete Kriegsopfer aufzunehmen. Das angebliche «Veto» des Bundes hat es nicht gegeben.

Diese Schlussfolgerung bestätigte sich am Mittwochabend: Die Schweiz hat sich gegenüber der Ukraine bereit erklärt, verletzte Zivilistinnen und Zivilisten aufzunehmen. Die Zusage erfolgte, nachdem die ukrainischen Behörden der Schweiz zwei Gesuche zugestellt hatten: Darin garantiert die Ukraine, dass es sich um Zivilpersonen bzw. 155 Kinder handelt. SRF berichtete als Erstes über diese Wendung.

Die Wendung klingt überraschend, sie ist es aber nicht, wie ein Blick auf die Hintergründe zeigt.

Wie es eigentlich laufen müsste

Die Schweiz hat in ihrer Geschichte schon mehrmals Kriegsopfer aufgenommen. Zu Beginn dieser «humanitären Tradition» stand die Internierung der französischen Bourbaki-Armee im Jahr 1871, als rund 87'000 französische Soldaten in der Schweiz wochenlang Schutz und Brot erhielten.

Das Problem an solchen humanitären Taten ist, dass sie im Krieg von einer Kriegspartei missverstanden werden könnten: Hilft die Schweiz nun dem Gegner? Gelöst wurde das Problem durch die Genfer Konventionen: Die Länder der Welt versuchten damit, in Kriegssituationen einen Mindeststandard an Menschlichkeit zu schaffen. Darunter wurde auch geregelt, wie Kriegsverletzte abtransportiert werden und wie eine «neutrale Macht» wie die Schweiz besondere Hilfe leisten darf.

Die «besondere Hilfe» bedeutet hier: Die Schweiz verpflichtete sich als neutraler Staat gegenüber der ganzen Welt, bestimmte Rechte und Pflichten einzuhalten.

Dieses Sonderrecht gibt der Schweiz das Recht, nicht nur verletzte Soldaten aus einem Kriegsgebiet aufzunehmen (das darf jedes Land) –, die Eidgenossenschaft darf sogar ausdrücklich von Sanitätsflugzeugen angeflogen werden, ohne dass sie von ukrainischen oder russischen Raketen vom Himmel geschossen werden. Die Flugzeuge müssen dafür lediglich mit einem «roten Kreuz auf weissem Grund» (zu Ehren der Schweiz) bemalt werden. Diplomatisch braucht es zudem eine Zustimmung der Schweiz mit den Kriegsparteien: Alle Beteiligten sollen wissen, wann und wo welches Flugzeug unterwegs ist.

Profitieren davon können nicht nur Soldatinnen und Soldaten, sondern auch die Zivilbevölkerung. Die Schweiz verpflichtete sich im Gegenzug gegenüber der Weltgemeinschaft, dafür zu sorgen, dass aufgenommene Menschen nicht mehr an Kriegshandlungen teilnehmen können. Die Überlegung dahinter: Die neutrale Schweiz soll nicht die eine oder andere Kriegspartei unterstützen, indem sie Armeeangehörige für neue Kampfhandlungen stärkt.

Worüber berichtet wurde

In der Recherche der Tamedia-Zeitungen kam aber nicht der offizielle, sondern der falsche Weg zum Zuge. Dieser begann am 12. Mai 2022 mit einem Schreiben, in dem um «internationale medizinische Evakuierungshilfe» gebeten wurde. Adressiert war der Brief nicht an ein spezifisches Land, sondern an eine Reihe von Staaten und Organisationen. So landete er in den darauffolgenden Tagen nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern auch in Japan, der Mongolei, beim Papst und auch auf den Schreibtischen der Schweizer Behörden.

Was danach passierte, ist bereits bekannt: Eine Reihe von Behörden – darunter das Bundesamt für Gesundheit, die Kantone und das Aussendepartement (EDA) – eröffneten ein Dossier und prüften, was möglich ist oder organisiert werden muss. Zusammengefasst kann gesagt werden: Die Gesundheitspolitik wollte helfen, das EDA unter Bundespräsident Ignazio Cassis lieferte Gründe dagegen.

Verstanden wurde das in der breiten Öffentlichkeit so, als hätte die Schweiz die Aufnahme von kriegsverletzten Ukrainerinnen und Ukrainern abgelehnt. Schuld an diesem Verständnis war auch die Behördensprache, wie verantwortliche Personen gegenüber watson sagen: Die Schweiz habe sich nie geweigert. Der Bund habe die Nato-Anfrage nicht einmal beantwortet. Im Zeitungsartikel des «Tages-Anzeigers» wurde jedoch im Behördendeutsch berichtet, dass «das EDA keinen formellen Entscheid gefällt» habe.

Die Schweiz hat sich nie geweigert. Der Bund hat die Nato-Anfrage nicht einmal beantwortet.

Gründe für das bewusste Ignorieren des Nato-Schreibens gab es viele. Es war nicht nur der falsche Weg, um mit der Schweiz als «neutrale Macht» über solche Fragen zu diskutieren. Es widersprach dem, wofür sich die Eidgenossenschaft weltweit verpflichtete: Medizinisch versorgte Kämpfer sollen nicht wieder zurück in den Krieg ziehen dürfen. Doch genau das verlangte das Schreiben der Nato: Vorgesehen war eine «Rückkehr in die Ukraine nach Abschluss der medizinischen Behandlung» – sowohl für Zivilisten als auch für Soldatinnen.

Konkret hätte das bedeutet: Die Schweiz hätte jeden Sanitätsflug mit der Ukraine und Russland absprechen müssen. Im Falle von Zivilistinnen wäre das kein Problem gewesen, heisst es in einer EDA-Analyse, die teilweise watson vorliegt (eine vollständige Einsicht ins Dokument wurde watson verweigert). Wäre aber auch nur ein einziger Zivilist in Wahrheit ein Soldat gewesen, so hätte das Risiko bestanden, dass Russland das herausfindet. Das Völkerrecht erlaubt den Kriegsparteien, solche Sanitätsflüge zur Landung aufzufordern, um die Korrektheit der humanitären Mission zu prüfen. Der Kreml hätte zudem gleiches Recht einfordern können – sprich: Selbst zu entscheiden, wie viele verwundete russische Soldaten in die Schweiz geflogen werden.

Die Eidgenossenschaft wäre dann verpflichtet gewesen, Kämpferinnen und Kämpfer beider Konfliktparteien in der Schweiz festzuhalten. Entweder so, wie es zuletzt im Kalten Krieg während des Afghanistan-Kriegs passierte: In archaischen Internierungslagern, wo Russen «eidgenössisch perfekt mit Stacheldraht, Scheinwerfern, einem Wachtürmchen und patrouillierenden Soldaten mit ungeladener Waffe» überwacht wurden. Oder aber mit moderneren Massnahmen wie der elektronischen Fussfessel. Auf jeden Fall wäre aber klar gewesen: Verlässt ein ukrainischer und russischer Soldat die Schweiz, wäre die Schweizer Rolle als neutraler Staat und als sicherer Zielort für Sanitätsflüge zunichte gewesen. Und zwar, weil sich die Schweiz bewusst auf einen solchen einseitigen Deal mit einer Kriegspartei einliess – obwohl das humanitäre Völkerrecht andere Vorgehensweisen für die Schweiz vorsieht.

«Gemäss Neutralitätsrecht müssten wir also Militärpersonen nach Genesung daran hindern, in die Ukraine zurückzukehren. Solche Zwangsmassnahmen werden wir aber nicht ergreifen wollen (wir müssten die Personen notfalls gegen ihren Willen an der Rückkehr hindern, was mit Blick auf Menschenrechte, aber auch aus politischen Gründen ausgeschlossen scheint). Aus dieser Sicht sollten wir die Übernahme von verwundeten Militärpersonen ablehnen; bei Zivilpersonen bestehen hingegen keine rechtlichen Schranken.»
Ausschnitt der EDA-Analyse – sie richtet sich konkret nach der Anfrage der Nato-Unterorganisation.

Diese Argumente landeten am 16. Juni 2022 beim Verteidigungs- und Innendepartement sowie bei den Kantonen, wo man sich für einen «Übungsabbruch» entschied. Nicht, weil es das EDA befohlen hatte oder ein «Veto» einlegte – sondern weil offenbar die Analyse überzeugte. Dies hatte zur Folge, dass die Behörden den Brief unbeantwortet liessen – er war ohnehin nur eine Art Umfrage oder Rundbrief, der die völkerrechtliche Besonderheit der Schweiz nicht berücksichtigte.

Was im Hintergrund ablief

Gelesen wurde der Vorgang trotzdem als «Weigerung» – was angesichts der humanitären Tradition der Schweiz weltweit für Schlagzeilen sorgte. Auch in der Ukraine wurde am Dienstag berichtet, dass sich die Schweiz weigere, «ukrainische Verwundete» aufzunehmen – auch wenn die Eidgenossenschaft nie so etwas entschieden hatte.

Was genau im Hintergrund ablief, darüber schweigt das Aussendepartement. Gerüchte, wonach der Kreml ein früheres Angebot der Schweiz zur Evakuation ukrainischer Kriegsopfer verunmöglichte, liessen sowohl das Schweizer als das russische und ukrainische Aussenministerium unkommentiert. Umso kommunikativer wurden die Behörden, nachdem erkannt wurde, wie delikat die Angelegenheit ist und wie sie politisch oder diplomatisch gelöst werden kann: Mit einem offiziellen, völkerrechtlichen Gesuch von der Ukraine anstatt auf dem Umweg via Nato-Anfrage.

«Die ukrainische Seite garantiert, dass die Schweizer Neutralität nicht in Frage gestellt wird.»
Brief der ukrainischen Botschaft

Dieses sieht gemäss watson-Informationen so aus: Die ukrainische Botschaft reichte zwei schriftliche Gesuche bei der Eidgenossenschaft ein, in der sie um Aufnahme von Kriegsopfern bittet. Sie garantiert dabei, dass es sich bei den 100 Personen bzw. 155 verwundeten Kindern nur um Zivilpersonen handelt. Publik wurde dieser Schritt am Mittwochabend, nachdem verschiedene Medien die Sichtweise der ukrainischen Botschaft in Bern zum angeblichen «Veto» des Bundes hören wollten.

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70 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Daniel Pünter
20.07.2022 19:43registriert April 2021
Kann man die verantwortlichen Stellen mal in einen Kommunikations-Kurs schicken? Vielleicht lernen sie dann etwas?

Auf jeden Fall ist das Geschirr zerschlagen und bessert das Ansehen der CH nicht auf.
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Gandalf-der-Blaue
20.07.2022 20:06registriert Januar 2014
Danke für diese detaillierte Klärung. Sehr schade, dass es soweit kam, aber irgendwie bin ich doch erleichtert, dass das Geschrei, in das ich übrigens auch eingestimmt habe, vergebens war.
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_kokolorix
20.07.2022 20:00registriert Januar 2015
Lasst mich raten. Der internationale Reputationsschaden wurde grösser als anfänglich erwartet.

Wer hätte das nur ahnen können...
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