Die Journalisten der «Schweiz am Wochenende» empfängt Pascal Couchepin im Garten seines Hauses in Martigny. Es ist ein Garten voller Beeren, Obst, Gemüse, Kräuter, wie ein «jardin de curé», ein Pfarrgarten. Die Aprikosen sind dieses Jahr klein und wenig zahlreich. Vielleicht sind sie aber gerade deshalb besonders süss. Coronakrise, abgebrochene EU-Verhandlungen, Parteien im Umbruch: In der Schweizer Politik herrscht gerade wieder Orientierungslosigkeit. In solchen Momenten wird alt Bundesrat Pascal Couchepin für Politiker und Medienleute, die auf der Suche nach Ratschlag, Einordnung und Erklärung sind, zum gefragten Gesprächspartner.
Pascal Couchepin, Sie haben gerade den «Tartuffe» von Molière gelesen.
Pascal Couchepin: Ich habe das Stück vom frommen Heuchler wieder einmal gelesen, weil es mir in den Sinn kam, als ich von einer Episode in Paris las.
Erzählen Sie.
In einem Viertel von Paris wollte eine grüne Bürgermeisterin eine Skulptur des verstorbenen Musikers Johnny Hallyday verbieten. Die abgebildete Gibson-Gitarre schien ihr zu sehr wie ein Phallus, und das Motorrad - Johnny war immer mit dem Motorrad unterwegs - war ihr zu machohaft. Das war zu viel für die Sensibilität der Frau, und, wie sie dachte, auch für das Volk.
Wie war das bei «Tartuffe»?
Dort wollte der fromme Heuchler den Busen einer Frau abdecken lassen, damit er ihn nicht sehe. Solche Dinge wühlten das Volk auf und verwirrten es, meinte er. Zur Zeit von Molière musste die weibliche Brust verhüllt werden, und Ähnliches passiert jetzt bei den Grünen in Frankreich. (Kunstpause) Bei den Schweizer Grünen wäre so etwas natürlich nicht möglich.
Ist das Ihr Ernst?
(Lacht) Natürlich nicht!
Am Sonntag ist 1. August, die Schweiz feiert Geburtstag. Was wünschen Sie ihr?
Die Herausforderung der Schweiz für die Zukunft ist, wieder Gemeinsamkeit zu erreichen. Wir müssen uns wieder fragen: Was bringt uns zusammen?
Was ist Ihre Antwort?
Für mich ist es die politische Diskussion und die Fähigkeit, kontradiktorische Meinungen zu äussern, ohne den anderen als Verräter oder als weniger guten Patrioten zu betrachten. Diese Stärke fehlt uns.
Früher war das anders?
Mindestens ist die Schweiz auf dieser Stärke aufgebaut. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Schweizerinnen und Schweizer die Fähigkeit entwickelt, kontroverse Auseinandersetzungen zu führen, ohne sich als Feinde zu betrachten.
Warum hat sich das jetzt verändert?
Die Probleme sind komplexer geworden. Es ist schwieriger geworden, Entwicklungen, Zusammenhänge zu verstehen. In solchen Situationen neigt man dazu, die eigene Meinung als Wahrheit zu betrachten, die andere als suspekt. Dazu kam die SVP, die systematisch Misstrauen gegenüber dem Staat schürte, den Behörden, den anderen. Ihre Lieblingsposition ist: allein gegen die anderen. Wenn man dieses Allein-gegen-die-anderen aber systematisch kultiviert, setzt sich in den Köpfen die Botschaft fest: Die anderen sind Feinde.
Das kam jetzt sogar in den abgebrochenen EU-Verhandlungen zum Ausdruck. Die EU ist böse, wir sind die arme, unterdrückte Minderheit.
Ja, nach dem Motto: «Wenn wir einmal den Mut haben, zu sagen: Jetzt ist genug, jetzt sind wir gleich stark wie die EU, wir begegnen ihr auf Augenhöhe, dann verteidigen wir unsere Würde.» Nur: 400 Millionen Einwohner gegen acht Millionen ist ein ziemlicher Unterschied, und die EU bedroht unsere Würde in keiner Weise. Im Gegensatz zu den USA. Mehrmals wurden Entscheide in Amerika gefällt, und die Schweiz hatte zu gehorchen. Im Steuerstreit beispielsweise und jetzt wieder bei den Unternehmenssteuern via OECD. Die EU aber behandelte uns immer respektvoll.
Zurück zur neuen Diskussionskultur, die Sie der Schweiz wünschen.
Unsere heutige Diskussionskultur ist eine Unkultur. Ein Ausdruck davon ist auch der Abbruch der Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU. Ich frage mich, ob der Bundesrat auf die Idee gekommen wäre, die Verhandlungen ohne Konsultation des Parlaments und ohne Volksentscheid abzubrechen, wenn wir nicht in einer Zeit des Notstands wären.
Sie sprechen vom Notstand in der Coronakrise, in der Notrecht zum Zug kam.
Ich war nicht gegen Notrecht, ich war ja auch verantwortlich für den Absatz im Gesetz, der dem Bundesrat im Fall einer Epidemie Vollmachten gab. Aber ich hatte nie damit gerechnet, dass eine solche Epidemie zwei, drei Jahre dauern könnte. Ich ging davon aus, dass es sich wie bei Grippewellen, die in meiner Amtszeit passierten, um einige Monate handeln würde. Aber dass eine Epidemie jahrelang dauert? Das ist nur vergleichbar mit einem Kriegszustand.
Wir erleben eine ähnliche Situation wie im Krieg?
Eine so lange Notstandssituation gibt es sonst nur im Krieg. Was mich besorgt: Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es Jahre, bis die Demokratie vollständig wiederhergestellt war. Es brauchte mehrere Volksinitiativen, um den Bundesrat zu zwingen, seine Vollmachten abzugeben. Die Situation scheint mir heute ähnlich.
Sie glauben, dieses Vollmacht-Denken hat sich in den Köpfen des Bundesrats festgesetzt?
Es ist interessant: Wenn die Leute sich daran gewöhnen, so zu regieren, verlieren sie an Sensibilität für die direkte Demokratie. Ich habe die Antwort nicht, aber ich frage mich: Wäre es vor Corona möglich gewesen, einen so wichtigen Entscheid wie den Abbruch der EU-Verhandlungen nur auf Regierungsebene zu fällen?
Für Sie war dieser Entscheid falsch – Sie hätten ihn nicht so gefällt?
Ich war jedenfalls unglücklich mit diesem Entscheid. Und er zeigt für mich, dass wir dringend über die Kräfteverschiebungen hin zur Exekutive diskutieren und Lösungen finden müssen. Zumal diese Verschiebung schon vor einigen Jahren begonnen hat.
Woran denken Sie?
Nehmen Sie den Entscheid des Bundesrats über die Energiewende. Ich habe inhaltlich nichts dagegen. Aber dass man jetzt sagt, dass das Volk entschieden habe, die Kernkraftwerke aufzugeben: Das stimmt ganz einfach nicht. Das Volk hat nach Fukushima ja auch den vorzeitigen Ausstieg abgelehnt. Trotzdem wird jetzt behauptet, das Volk wolle AKW schliessen.
Aber gab es diese Tendenzen nicht schon immer?
Nicht so ausgeprägt. Ich sehe auch andere Fälle, die in diese Richtung deuten. Etwa beim Gentech-Moratorium. Anfang Jahrtausend lehnte das Volk ein Gentechnik-Verbot ab. Wir wollten aber vorsichtig sein, und ich selbst gab noch eine Nationalfondsstudie in Auftrag, wir beschlossen ein Moratorium. Die Forschungsergebnisse liegen längst vor, trotzdem verlängerte der Bundesrat das Moratorium soeben wieder.
Warum ist der Bundesrat zunehmend versucht, den Souverän zu umgehen?
Man wagt nicht mehr, Entscheide zu treffen. Also verschiebt man die Entscheide. Dabei ist das Wesen der schweizerischen Demokratie die Konfrontation der Meinungen, ohne den Andersdenkenden zu verunglimpfen. Wir müssen wieder den Mut haben, kontroverse und zentrale Themen vor das Volk zu bringen und das Volk entscheiden zu lassen. Das ist das Wesen der schweizerischen Identität.
Das Rahmenabkommen wäre Gelegenheit für eine wichtige Debatte gewesen?
Es wäre eine fantastische Gelegenheit gewesen. Aber ich stelle fest, dass ausgerechnet unsere Freunde der SVP, die immer vorgeben, die Volksrechte zu verteidigen, jubelten, als der Bundesrat autoritär und allein entschied, die Verhandlungen abzubrechen. Mein ehemaliger Kollege Blocher hat die Absenz von Demokratie bei der Europafrage gefeiert. Mir kam das, man entschuldige meine ungebührliche Fantasie, vor wie der Rattenfänger von Hameln, der versprach, die Stadt von Ratten und Mäusen zu befreien. Stattdessen führte er die Jugendlichen in eine Höhle, aus der sie nie wieder zurückkamen.
Die Anhänger des Verhandlungsabbruchs sagen aber, die Souveränität der Schweiz sei gerettet.
Als ob man souverän wäre, wenn man den Souverän übergeht! Diese Leute vergessen, dass die Souveränität der Schweiz beim Volk liegt und nicht bei gewissen Eliten. Für mich als Freisinnigen ist klar: Lieber nach vertiefter Diskussion von Zeit zu Zeit vor dem Volk verlieren, als Entscheide zu fällen, die mir zwar gefallen, die aber nicht demokratisch gestützt sind. Dazu kommt: So überlässt der Bundesrat zweifelhaften Kräften das Feld.
Welche Kräfte meinen Sie?
In der Frage des Rahmenabkommens spielt plötzlich in der öffentlichen Debatte und offenbar selbst in Überlegungen des Bundesrats eine Vereinigung namens Kompass Europa eine Rolle. Nach dem Abbruch der Verhandlungen betrachten sie sich als Teil des Sieges. So machte ihr Geschäftsführer Aussagen wie: Solche Verhandlungen seien zu wichtig, um sie den Diplomaten und den Beamten zu überlassen. Aber wer sonst soll denn solche Verhandlungen führen? Glauben diese Leute etwa, dass die EU ihr Verhältnis zur Schweiz direkt mit Wirtschaftsführern diskutieren will? Es ist lächerlich, so etwas auch nur denken, geschweige denn zu sagen.
Die Unkultur, wie Sie sagen, die das Wesen der Schweizer Demokratie gefährdet, wie kann sie gestoppt werden?
Ich bin glücklich, in der heutigen Gesellschaft der Schweiz einen positiven Trend zu sehen. Die Mehrzahl der neuen Initiativen betrifft wichtige Themen und zeigt, dass den Leuten etwas fehlt. Sie spüren, dass das heutige System nicht mehr ausgeglichen ist. Es gibt zunehmend Druck von unten, von der Basis.
Woran denken Sie dabei?
Etwa an das zweite Referendum gegen das Covid-Gesetz und das Referendum gegen das Medienförderungsgesetz. Wenigstens wird es jetzt Debatten geben. Oder an die Initiative der Gewerkschaften für die 13. AHV-Rente. Vor allem an die Renteninitiative der Jungfreisinnigen, die keinen grossen Apparat haben und trotzdem innert kurzer Zeit 140000 Unterschriften sammelten. Das ist sehr ermutigend. Diese Initiativen greifen in Bereiche ein, wo Reformstau herrscht und die Politik nicht entscheidet. Ich hoffe, ja ich bete sogar dafür, dass aus diesen Initiativen konstruktive Debatten entstehen und am Ende endlich wieder gute, schweizerische Kompromisse.
Sie sind zuversichtlich?
Ich habe Vertrauen in das Volk. Wenn die in Bern zu schüchtern sind, macht das Volk Druck. Ich war bei den Jungfreisinnigen in Bern. Ich war beeindruckt. Es waren 180 Leute, Delegierte der verschiedenen Sektionen. Sie haben das Zustandekommen ihrer Initiative kurz gefeiert und danach weiterdiskutiert. Da ist etwas im Gang, das ist ermutigend.
Wie geht es weiter mit Europa?
Ich warte auf Vorschläge jener, die diesen Abbruch wollten.
Sie werden Ihren Parteikollegen nicht kritisieren wollen. Aber es müsste ja gerade von Ihrem FDP-Aussenminister Ignazio Cassis etwas kommen.
Er ist Mitglied eines Gremiums. Wenn ich ihn treffe, was bisher nicht oft geschehen ist, werde ich mit ihm diskutieren.
Und von Bundespräsident Guy Parmelin (SVP)?
Er ist ein sympathischer Parteisoldat. Zur Sache: Ich nehme an, es werden jetzt einige Jahre folgen, in denen man sich Johnson-like verhält. Wenn es nicht in unserem Interesse ist, wird es heissen: Die Bösen wollen uns nicht geben, was uns zusteht.
Macht das Volk das mit?
Nein! Die Bevölkerung war immer für die Weiterentwicklung der Beziehungen mit der EU. Sie wird einige Zeit zuschauen, was passiert, und dann dafür sorgen, dass diese Weiterentwicklung stattfindet. Aber das wird einige Zeit dauern. Wir haben uns in den Augen der EU als unzuverlässig erwiesen. Jetzt können wir nicht so schnell wieder nach Brüssel und um Vertrauen bitten.
Wird es jetzt schlechter für die Schweiz?
Ich hoffe es nicht, denn ich bin nicht für die Politik des Schlimmeren. Aber ich befürchte es. Ich denke, wir hängen jetzt leider teilweise vom guten Willen der EU ab.
Die Schweizer Politlandschaft ist im Umbruch. Wie sieht der Bundesrat in zehn Jahren aus?
Mit der CVP ist eine historisch wichtige Partei verschwunden. Ich habe Zweifel, dass die neue Gruppierung erfolgreich ist, aber ich würde es wünschen. Die CVP war immer ein wichtiger Partner. Die SP und wir Freisinnige verlieren Wähleranteile. Die SP versucht, einen Platz zu finden zwischen Liberalen und Grünen. Die FDP bleibt die grösste Partei in Sachen Behördenmitglieder in der Schweiz. Man sagt zwar, die Kraft kommt von unten. Aber niemand weiss, wo die freisinnige Partei in zehn Jahren steht.
Ob es sie dann noch gibt?
Ich werde alles tun, um dazu beizutragen. Aber niemand hat eine Garantie auf ewiges Leben.
Die Grünliberalen?
Ich halte sie in erster Linie für ein PR-Produkt, das wieder verschwinden wird. Sie sind ja auch nicht liberal. Mit wenigen Ausnahmen.
Und die Grünen, die möglicherweise bald auf Kosten Ihrer FDP einen Sitz im Bundesrat erhalten?
Die Grünen sind schlussendlich Gegner der heutigen Gesellschaft.
Wie kommen Sie denn darauf?
Sie kritisieren zwar die Methoden der radikalen Bewegung Extinction Rebellion, die sich über das Recht stellt, aber schlussendlich wollen sie das System verändern. Die Grünen haben ein Hauptanliegen, das sehr wichtig ist, ich sage nicht das Gegenteil. Aber praktikable Lösungen haben sie nicht. Und die Umwelt ist nicht die einzige Sorge unserer Gesellschaft.
Für Sie gehören die Grünen nicht in den Bundesrat?
Nein! Zuerst müssen sie sich verändern. Sie brauchen ein breiteres Programm, praktikable Lösungen, Kompromissbereitschaft. Und nicht nur linke Vorurteile. Grüne Minderheiten haben sogar zum Scheitern des CO2-Gesetzes beigetragen.
Die FDP sucht eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger von Petra Gössi. Zur Debatte steht ein Co-Präsidium. In Ihren Augen eine gute Lösung?
Hinter einem Co-Präsidium können verschiedene Überlegungen stecken. Wenn man, wie Kandidat Marcel Dobler, von sich sagt, die andere Sprache nicht zu beherrschen, dann löst man das aber mit einem Vizepräsidenten aus der anderen Sprachregion. Es sei denn, man wolle zwei politische Richtungen vertreten. Aber das ist gefährlich.
Warum?
Nehmen Sie die SP. Die Medien machen es sich zur Daueraufgabe, zu beweisen, dass ein Co-Präsidium nicht funktioniert. Die beiden Personen können ständig gegeneinander ausgespielt werden, es wird immer Abstimmungsprobleme geben. Ich halte ein Co-Präsidium für keine gute Idee. (aargauerzeitung.ch)
Und als Schluss noch "Grüne Minderheiten haben sogar zum Scheitern des CO2-Gesetzes beigetragen", obwohl 93% Grüne ja stimmten & 63% FDP Nein, na ja.