Herr Regierungsrat Fässler, am vergangenen Freitag wurden wieder Ausschreitungen in den Schweizer Städten befürchtet. Geschehen ist aber fast nichts. Ging die Strategie der Polizei auf?
Fredy Fässler: Ich habe diesem Wochenende mit einer gewissen Sorge entgegen geschaut und bin jetzt froh, dass die angekündigten Veranstaltungen nur in einem reduzierten Rahmen stattgefunden haben. Die Polizei war in mehreren Städten sehr präsent und musste mehrere Dutzend Wegweisungen und Verzeigungen aussprechen. Aber im Grossen und Ganzen gab es keine Gewaltexzesse – was mich sehr freut.
Dann stelle ich die provokante These auf: Die Repressions-Taktik der Polizei ging auf.
Das würde ich so nicht sagen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigte mehr, dass Repression alleine nicht die Antwort auf Probleme sein kann. Wir haben das bei der Gewalt im Bereich des Fussballs gesehen, wo es punkto Ausschreitungen erst ruhiger wurde, als die Fanarbeit verstärkt wurde. Dasselbe lernten wir bei der Drogenpolitik. Solche gesellschaftlichen Phänomene löst man nicht, indem man sie nur mit einer Brille betrachtet und beispielsweise nur mit Polizeieinsätzen reagiert.
Sie kritisierten in der «Samstagsrundschau» im Radio SRF die fehlenden Gespräche mit der Jugend.
Genau. Die Politik sprach darüber, wie man die älteren Mitmenschen schützen soll oder was Massnahmen für Familienfeste bedeuten. Ein besonderer Fokus auf die Jugend fehlte. Das liegt vielleicht auch daran, dass eine ganze Generation während der Pandemie immer schwerer zu erreichen war: Wegen Homeoffice und Homeschooling fehlte etwa der Raum, wo ein gesellschaftlicher Diskurs hätte geführt werden können, um Ängste, Wut und Fragen zu klären. Das wäre der richtige Ansatz, um gesellschaftliche Entwicklungen anzugehen. Die Polizei ist nicht da, um jedes Problem zu lösen.
Das ist mir etwas zu vage. Was fordern Sie konkret?
Ich kenne das perfekte Rezept auch nicht. Aber es müssten doch bei uns allen von der Politik über die Wirtschaft bis hin zur Schule, Familie und den Medien die Alarmglocken läuten, wenn ein kleiner Teil der Jugend zu einer derart primitiven Gewalt greift, um sich Gehör zu verschaffen. Dasselbe gilt auch für den Bundesrat: Er wird am Mittwoch über die weiteren Schritte diskutieren. Da müssen auch Positionen und Gedanken berücksichtigt werden, die neben den gesundheitspolitischen Fragen aufkommen.
Das muss der Bundesrat ja auch. Das Epidemiengesetz fordert, dass er die Kantone anhört.
Die Kantone – und nicht, wie es bislang allzu häufig praktiziert wurde, nur die Gesundheitsdirektionen. Da wurde auch entsprechend interveniert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Gesundheitspolitische Aspekte sind während einer Pandemie wichtig. Das Epidemiengesetz sieht aber klar vor, dass die Kantone angehört werden – und nicht nur die Gesundheitsdirektorenkonferenz. Die Massnahmen haben nicht nur Auswirkungen auf die Entwicklung einer Pandemie, sondern auch auf andere Bereiche.
So etwa auch auf die Polizei. Sie sind der «oberste Polizeidirektor» der Schweiz. Wie ist die Stimmung bei den Polizistinnen und Polizisten?
Letztes Jahr war bestimmt ein auffälliges Jahr aus Sicht der Polizeikorps: Es gab weniger Einbruchsdelikte und weniger Unfälle, dafür einen leichten Anstieg bei der häuslichen Gewalt. Dieses Jahr machen uns die Gewaltexzesse und Demonstrationen zu schaffen. Sie kommen in einer Häufigkeit und Intensität vor, für die unsere Polizei nicht konzipiert ist.
Wie meinen Sie das?
Die Schweiz hat keine Bereitschaftspolizei, die darauf wartet, zu Sonderereignissen geschickt zu werden. Bei grösseren Events wie Demonstrationen oder illegalen Veranstaltungen müssen die Kantone zusammenarbeiten, um sich gegenseitig mit Polizeipersonal zu ergänzen. Passiert das jedes Wochenende, ist das eine Zusatzbelastung für die Polizei und raubt Ressourcen für andere Arbeiten.
Wo fehlt es dann?
Das Ziel ist, Arbeitspläne so zu machen, dass bei der Sicherheit keine Abstriche gemacht werden müssen. Es ist aber so: Die Arbeit der Frauen und Männer in den Polizeikorps besteht nicht nur aus der Präsenz vor Ort an solchen Wochenenden. Sie müssen solche Ereignisse nachbearbeiten, Straftaten ermitteln – und das alles neben der alltäglichen Polizeiarbeit.
Wieso sind Überstunden ein Problem, wo es doch letztes Jahr ruhiger war?
Überstunden stellen jedes Personalwesen vor Fragen. Im Kanton St. Gallen können Überstunden aus rechtlichen Gründen nur eingeschränkt ausbezahlt werden und müssen abgebaut werden. Aber Freitage sind jetzt, wo Polizeipersonal an allen Fronten gebraucht wird, kaum möglich.
Am Donnerstag werden Sie sich mit all Ihren Kolleg:innen aus den anderen Kantonen treffen. Wird die aktuelle Entwicklung bei der KKJPD ein Thema sein?
Die zunehmende Gewalt gegen die Polizei ist schon länger ein Thema beim betroffenen Personal und wird von den Kommandantinnen und Kommandanten aufmerksam verfolgt. Bei uns ist es am Donnerstag nicht besonders traktandiert, ich gehe aber davon aus, dass es unter Varia diskutiert wird.
Diesen Satz sollen sich unsere PolitikerInnen zum Vorbild nehmen. Die Lösung eines komplexen Problems liegt nie in einfachen Formeln, sondern muss breit diskutiert und gesellschaftlich abgestützt sein. Da müssen sämtliche Alters-, Sozial- und Wirtschaftsklassen eingebunden werden!
Funktioniert in unseren alltäglichen Auseinandersetzungen doch ganz gut: Will man zu zehnt in ein Restaurant, entscheidet auch nicht ein einzelner Mensch. Sondern man diskutiert die Bedürfnisse - der eine isst vegetarisch, die andere koscher - und schafft Konsens.
Hut ab vor all denen, die die letzten Jahre noch täglich gut gelaunt zur Arbeit gingen und noch gehen.