Es gibt Menschen, denen verdanken viele andere unendlich viel. So viel, dass es gerade schwer fällt, diesen Nachruf zu schreiben. Trauer ist eine besonders gründliche Form der Überwältigung.
Röbi Rapp war einer dieser Verdienstvollen. Der zarte Coiffeur aus Zürich, der sich in Jahren, als dies gefährlich war, auf der Bühne zur Frau verwandelt und singt, dass alle betört sind. Der 1956, im Alter von 26 Jahren, einen schönen Lehrer namens Ernst kennenlernt. 2003 lassen sie sich als erstes Paar im Zürcher Stadthaus in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft registrieren. Die beiden sind ein Traumpaar. Nicht unbedingt monogam, aber immer zusammen. Bis zuletzt.
Jetzt hat sich Röbi dazu entschieden, Ernst zurückzulassen. «Wir sind betroffen und traurig über den Hinschied von Röbi Rapp. Röbi durfte nach einer Phase schwerer Krankheit mit Hilfe einer Freitodbegleitung am letzten Sonntagabend, im Beisein seiner Liebsten, im Alter von 88 Jahren ruhig und friedlich zu Hause einschlafen», meldet das Team, das die Liebesgeschichte von Ernst und Röbi vor vier Jahren zum Filmerfolg «Der Kreis» gemacht hat.
Röbi und der Film ist eine Geschichte, die weit zurückreicht, ins Jahr 1940. Röbi ist der Sohn einer allein erziehenden Garderobiere am Zürcher Schauspielhaus und hat sich dort schon öfter in Kinderrollen hervorgetan.
Und dann kommt der Tag, der ihn ins grosse Rampenlicht katapultiert, und auf traurige Weise charakteristisch ist für jene Zeit: Die Schweizer Produktionsfirma Gotthard-Film verfilmt den Bestseller «Das Menschlein Matthias». Für die Hauptrolle vorgesehen ist ein jüdischer Schauspieler. Aus Deutschland kommt der Bescheid, dass man in der Schweiz ja nicht glauben solle, ein Film mit einem jüdischen Hauptdarsteller würde in Deutschland vertrieben werden. Aber genau dies will Gotthard-Film. Der jüdische Junge muss ersetzt werden. Und Röbi wird engagiert.
«Das Menschlein Matthias» erzählt die melodramatische Geschichte des unehelichen Buben Matthias, der auf dem Landgasthof seiner bösen Tante aufwächst. Nach dem Krankheitstod seiner Lieblingscousine, flieht er zur lieben und schönen Mutter Brigitte in die vibrierende Grossstadt Rorschach. Brigitte arbeitet in einer Textilfabrik und versucht krampfhaft, ihre Selbständigkeit zu bewahren. Sehr lang geht gar nichts gut. Der Film läuft in Venedig an den Filmfestspielen und gilt als Meisterwerk (was von heute aus gesehen allerdings nicht mehr ganz nachvollziehbar ist).
Danach ist es wieder erstaunlich still um Röbi. Seine Mutter ist eine Witwe ohne Witwenrente, die 500 Franken, die er für den dreimonatigen Dreh erhalten hatte, dürften auch nicht ewig gereicht haben, er jobbt als Ausläufer und lernt später Coiffeur. Mit 24 arbeitet er als Vertreter der Firma Schwarzkopf in Beirut und Damaskus.
In einem Film spielt er nicht mehr mit und auf der Bühne wird er erst wieder als Travestiekünstler in den 50er-Jahren berühmt. Wieso? «Ich habe sehr jugendlich ausgesehen, ziemlich mädchenhaft», sagt er, «ich hätte gar keine Männerrolle spielen können.» Hätten die Nazis 1940 geahnt, was einmal aus ihm wird, sie hätten auch ihn vehement verhindert.
In den 50er- und 60er-Jahren kommt es zu einer Reihe von Morden an Schwulen, man weiss nicht genau, ist es eine Hetzjagd oder handelt es sich um individuell motivierte Verbrechen von jungen Strichern, die sich an ihren Freiern rächen. Aber so, wie die Morde in der Presse dargestellt werden, und wie die Mörder vor Gericht davonkommen, ist klar: Die Zürcher Gesellschaft hasst ihre Schwulen. Ein toter Schwuler ist krimineller als sein Mörder. Und die Lebenden werden in grossen Razzien von der Polizei verfolgt und erfasst. Auch Röbi und Ernst stehen kurzzeitig unter Mordverdacht.
Der Rahmen, in dem sie sich verwirklichen können, bietet ihnen die Schwulenorganisation «Der Kreis» mit ihren Bällen samt internationalem Publikum – es gibt damals einen berühmten Freitagabendflug der Lufthansa von Frankfurt nach Zürich, die sogenannte «Warmlufthansa» – und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. 2000 Abonnenten hatte der «Kreis» damals, 700 davon im Ausland. Auf Deutsch, Französisch und Englisch erschienen da Kurzgeschichten, Gedichte und Bilder, und weil die Schweizer Zensurbehörde von einst des Englischen kein bisschen mächtig war, waren die englischen Magazinbeiträge mit Abstand die pornographischsten.
Erst 1968 kam mit den aus den Jugendunruhen heraus geborenen Zürcher Globuskrawallen eine Erleichterung über die Schwulenszene: Die Polizei hatte endlich anderes zu tun. Und Ernst und Röbi konnten ihr Engagement aus dem wilden, gefährdeten Untergrund in die etwas ruhigeren Bahnen von Organisationen wie Pink Cross oder der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich leiten. Ihr Look geht allmählich weg vom flirrenden Glamour der Travestie-Shows und hin in Richtung Sofas mit Häkeldeckchen.
Lieber Röbi, wir, die wir jetzt Zürich als eine Insel der Glückseligen wahrnehmen mit unserer lesbischen Stadtpräsidentin und allen andern, die ihre Liebe heute tatsächlich als Normalität leben können, wir wissen, dass dein Leben eine Pionierarbeit für uns war. Lieber Ernst, bitte, bleib uns trotz deines Verlusts noch ein wenig erhalten. Wir sind bei dir. Habt Dank, ihr zwei.