Seit Wochen erklären es die Ökonominnen und Ökonomen der Science Taskforce des Bundesrates mantraartig: Härtere Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus verhindern nicht nur Tote und schwere Krankheitsverläufe, sondern machen auch wirtschaftlich Sinn.
In einer Pressekonferenz sagte Monika Bütler, Ökonomin und Taskforce-Mitglied: «Die Übersterblichkeit führt zu hohen Kosten, selbst wenn ein drohender Kollaps des Gesundheitssystems vermieden werden kann.» Selbst bei konservativen Schätzungen gehe die Taskforce davon aus, dass der Gesundheitsnutzen von strengen Massnahmen grösser ist als der dadurch verursachte wirtschaftliche Schaden – «je nach Wirksamkeit und Ausgestaltung der Massnahmen möglicherweise um ein Vielfaches», so Bütler.
>>> Alle News zum Coronavirus im Liveticker
Doch auf welcher Grundlage fussen die Aussagen der Ökonomen? Gibt es dazu Zahlen, Statistiken, Berechnungen? Bisher fehlte eine Kosten- und Nutzenabwägung von Massnahmen. Insbesondere das Beziffern der Nutzenseite ist mit einer heiklen Diskussion verbunden: Wie viel kostet der Tod? Wie viel ein gerettetes Leben? Viele finden es ethisch verwerflich, Lebensjahre in Geldbeträgen zu erfassen. Markus Brülhart, Professor für Volkswirtschafslehre und Mitglied der Expertengruppe Economics der Corona-Taskforce, versteht dieses Aversion, sagt aber: «Die Alternative zu transparenten, quantitativen Schätzungen hat einen einfachen Namen: Bauchgefühl.»
Damit also das Bauchgefühl einer wissenschaftlichen Berechnung weicht und die Taskforce-Ökonomen ihre Argumente mit Fakten unterfüttern können, haben sie nun eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse erstellt. In einem am Mittwoch veröffentlichten Papier fassen sie ihre Erkenntnisse folgendermassen zusammen:
Auszurechnen wie viel es kostet, wenn das Gesundheitssystem zusammenbricht, ist laut den Ökonomen unmöglich. Für die Gefahr der anhaltenden Übersterblichkeit hingegen liessen sich gewisse Kostenabschätzungen machen, schreiben sie in ihrem Papier. Dazu rechneten die Wissenschaftler zuerst aus, wie viele Tote verhindert werden könnten, wenn Massnahmen ähnlich wie während des ersten Lockdowns im Frühling verhängt würden. Je nach Effektivität des Lockdowns würde sich die Halbwertszeit der Todesfälle auf zwei Wochen (in der Tabelle als «hohe» Wirksamkeit beschrieben) oder auf vier Wochen («tiefe» Wirksamkeit) verringern.
Die Ökonomen errechneten so, dass bei einem Lockdown, je nach Dauer und je nach Wirksamkeit, zwischen 3200 und 5700 Todesfälle verhindert werden können.
Doch wie viel kosten diese gewonnenen Lebensjahre? Um diese ethisch schwierige Frage zu beantworten, stützen sich die Wissenschaftler im Papier auf zwei statistische Werte, die in der Schweiz anerkannt oder durch die Rechtsprechung definiert sind. Bei ersterer Rechnung (in der Tabelle «administrative Bewertungsmethode») verwenden sie einen Geldwert von 100'000 Franken als «angemessene» medizinische Kosten pro gewonnenem Lebensjahr gemäss einem Bundesgerichtsurteil von 2010. Bei der zweiten Berechnung («statistische Bewertungsmethode») verwenden sie einen Wert von 250'000 Franken eines Lebensjahres gemäss dem «Value of Statistical Life»-Ansatz. Dieser wird vom Bundesamt für Raumentwicklung empfohlen als Richtwert für die Zahlungsbereitschaft für die Verminderung von Unfall- und Gesundheitsrisiken in der Schweiz.
So erhält man, je nach Dauer und Wirksamkeit des Lockdowns und je nachdem wie viele Todesfälle dadurch verhindert werden, einen Wert zwischen 2,1 Milliarden und 9,3 Milliarden Franken. Die Taskforce-Ökonomen halten fest: «Je länger ein Lockdown dauert, desto grösser wird die Zahl der verhinderten Todesfälle und der Wert der vermiedenen gesundheitlichen Schäden.»
So viel zur Nutzenseite. Doch der Lockdown ist auch mit Kosten verbunden. Bei dieser Rechnung beziehen sich die Ökonomen auf Daten und Analysen der Konjunkturforschungsstelle von der ETH Zürich, bei der die Situation im Frühling analysiert wurde und passen sie auf die heutige Situation an. Hierbei zeigt sich, dass der Verlust an wirtschaftlicher Wertschöpfung in der Schweiz bei einem strengen Lockdown je nach Dauer zwischen 1,4 Milliarden und 4,5 Milliarden Franken liegt.
Die Wissenschaftler betonen, dass sämtliche Zahlen auf groben Schätzungen basieren. Und doch könne festgehalten werden, dass der gesundheitliche Nutzen eines neuerlichen Lockdowns die ökonomische Kosten in der Regel übertrifft. Zum Beispiel würde ein 4-wöchiger Lockdown bereits bei einer geringen Wirksamkeit der Massnahmen einen gesundheitlichen Nutzen zwischen 1,7 und 5,4 Milliarden Franken generieren. Während dieses Szenario mit Kosten zwischen 1,4 bis 1,8 Milliarden Franken an Wertschöpfungsverlusten einhergehen würde.
Das Rechnungsbeispiel der Ökonomen geht von einem Referenzszenario mit 80 Todesfällen und einem R-1-Faktor aus. Mit dem mutierten Coronavirus besteht allerdings die Sorge, dass es zu einer schnelleren Ausbreitung und damit auch zu mehr Hospitalisierungen und Todesfällen kommen kann. «Wie würde sich unsere Kosten-Nutzen-Rechnung verändern, wenn wir von einem Referenzszenario mit ansteigenden anstatt konstanten Todesfällen ausgehen würden?», fragen sich die Wissenschaftler in ihrem Papier.
Genau beziffern lässt sich das nicht. Sie halten aber fest, dass der gesundheitliche Nutzen von zusätzlichen Massnahmen in diesem Fall deutlich grösser wäre als die Kosten.
Einordnend schreiben die Ökonomen in ihrem Papier, dass es von verschiedene Faktoren abhängig ist, ob sich Corona-Massnahmen wirtschaftlich lohnen oder nicht: Erstens von der Auslastung des Gesundheitssystems, insbesondere der Intensivstationen und von dem Grad der Übersterblichkeit. Zweitens vom Niveau und der Dynamik der Ansteckungszahlen. Drittens von der voraussichtlichen Dauer und Wirksamkeit der gesundheitspolitischen Massnahmen. Und viertens vom fiskalischen Potential und den Entschädigungsmassnahmen für Betroffene.
Ausgehend von diesen vier Faktoren sind die Voraussetzungen für weitgehende gesundheitspolitische Massnahmen laut den Wissenschaftlern in der Schweiz erfüllt. Denn: Erstens ist die Auslastung der medizinischen Kapazitäten hoch, ebenso die Übersterblichkeit. Zweitens sind die Ansteckungszahlen sehr hoch, kombiniert mit einem R-Wert nahe 1 in allen Kantonen. Drittens naht das Ende der Pandemie mit der Aussicht in naher Zukunft die gesamte Bevölkerung impfen zu können. Und viertens ist die Staatsschuldenquote in der Schweiz tief, der Angebotsüberhang auf dem Kapitalmarkt gross und die Kosten der Pandemiebekämpfung im internationalen Vergleich moderat.
Und was mich stört: Diese Woche wurde von Waadt bei Sequenzierung der Proben die Mutation ja bereits im Oktober (!!) in einer Probe entdeckt. Die weilt also wohl schon lange unter uns - das sollte mal genauer untersucht werden. Bevor mit der Mutation weiter Panik gemacht wird und weitere Massnahmen begründet werden, sollte das untersucht werden.