Frau Akman, letzte Nacht fanden in Kobane die heftigsten Kämpfe seit Wochen statt, was haben Sie davon mitgekriegt?
Anil Akman: Ich befinde mich jetzt in Çaykara, einem kleinen Dorf in der Nähe von Suruç, rund fünf Kilometer von Kobane entfernt. Die Explosionen sind spürbar. Wenn eine Bombe niedergeht, sieht man zuerst Feuer und erst dann hört man den Knall. Der Boden vibriert und Gewehrschüsse knallen. Nachdem gestern bekannt wurde, dass die Türkei Peschmerga-Kämpfer nach Kobane einreisen lässt, um die Kämpfer in Kobane zu unterstützen, gab es abends grosse Explosionen. Der IS versuchte den Norden der Stadt von der Türkei zu kappen, um die Einreise der Peschmerga-Kämpfer zu verhindern. Angeblich warfen die IS-Kämpfer sogar Streubomben in die Türkei.
Was sehen Sie sonst noch von Ihrem Beobachtungsposten aus?
In Kobane ist auch mit Feldstechern kaum Leben zu erkennen. Die Kämpfer halten sich in Deckung. Die IS-Fahne, die auf einem Gebäude mitten in der Stadt gehisst wurde, ist aber klar zu erkennen. Am Wochenende sahen wir die Kampfjets der Amerikaner über Kobane fliegen. In der Nacht sind türkische Militärtrucks zu erkennen, die über die Grenze hin und zurück fahren.
Was ist in den Trucks? Waffen für den IS aus der Türkei oder Waffen von Kurden für Kurden?
Niemand kann kontrollieren, was da transportiert wird. Vor ein paar Tagen räumte das türkische Militär Beobachtungsposten der Kurden an der Grenze – teilweise gewaltsam, wie es hiess. Eine Frau ist im Spital. Viele Kurden denken, die Türken wollen nicht, dass die Beobachter etwas sehen, dass sie nicht sehen sollten. Die Türkei lässt auch keine Kurden nach Kobane einreisen. Alle werden an der Grenze aufgehalten.
Spitzt sich der Konflikt zwischen Türken und ethnischen Kurden in der Türkei jetzt wieder zu?
Ich glaube nicht. Die Kurden, mit denen ich gesprochen habe, unterscheiden sehr klar zwischen der türkischen Regierung und den Türken selber. Mit der Regierung sind sie keineswegs einverstanden, die Türken hassen sie aber nicht. Die hartnäckigen Gerüchte, dass IS-Kämpfer in türkischen Spitälern gepflegt werden, tun dem schwierigen Verhältnis mit der Türkei aber auch keinen Gefallen.
Und nun haben die Kurden den Kampf selber in die Hand genommen.
Genau. Es ist, als hätten sich die Kurden gesagt, «jetzt reicht es, ein weiteres Mal lassen wir uns nicht vertreiben». Die Kurden haben in Kobane ihr Schicksal selber in die Hand genommen. Ich habe die Kurden noch nie so stolz erlebt.
Wie zeigt sich das?
Gestern habe ich mit einem Mann geredet, der gerade erfahren hatte, dass sein Sohn bei einem Gefecht in Kobane ums Leben kam. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. Als ich ihn fragte wieso, sagte er nur: «Ich bin unglaublich Stolz auf meinen Sohn.» Die Kurden halten jetzt zusammen.
Sind auch Sie als Ausländerin willkommen?
Sehr. Alle sagen mir, ich solle darüber schreiben, was ich sehe. Ich solle ihre Stimme ins Ausland tragen. Ich erlebe hier eine Solidarität, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Mir wurden mindestens vier Schlafplätze angeboten. Ich schlafe jetzt mit zwei anderen Frauen auf einem Küchenboden. Suruç und die umliegenden Dörfer platzen vor Menschen. Alle Häuser sind voll, überall schläft jemand.
Sind das alles Flüchtlinge?
Natürlich hat es auch syrische Kurden aus Kobane darunter. Aber auch sehr viele Kurden aus den umliegenden Städten, die alle hier her gereist sind, um irgendetwas für die verzweifelt Kämpfenden in Kobane zu tun. Jeden Tag werden hier drei Mahlzeiten verteilt. Es gibt Kioske und Notunterkünfte. Organisiert wird alles durch die kurdische BDP, die Partei des Friedens und der Demokratie.
Hatten Sie auch schon Kontakt zu Flüchtlingen?
Auf dem Weg hierher sind wir an Flüchtlingslagern vorbei gefahren. Es sind riesige Meere aus Zelten. Sie stehen dicht an dicht und platzen beinahe aus allen Nähten. Ich habe ein Mädchen aus Syrien getroffen. Sie hatte Freude an meiner Kamera. «In Kobane hatte ich auch eine», sagt sie. Sie und ihre Familie haben alles zurück gelassen.