Wissen
Schweiz

Stimmlos – wer in der Schweiz kein Stimmrecht hat

Wer darf hier mitbestimmen? Die Landsgemeinde in Trogen AR. Darstellung von Johann Jakob Mock, 1814.
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Landsgemeinde_Trogen_1814.jpg
Wer darf hier mitbestimmen? Die Landsgemeinde in Trogen AR. Darstellung von Johann Jakob Mock, 1814.Bild: Wikimedia / Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

Stimmlos – wer in der Schweiz kein Stimmrecht hat

Zu jung, zu fremd, zu anders? Auch 50 Jahre nach der Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Frauen bleibt die Frage nach der politischen Teilhabe aktuell. Eine historische Übersicht zur Stimmlosigkeit in der Schweiz.
05.12.2021, 17:35
Hannes Mangold / Schweizerisches Nationalmuseum
Mehr «Wissen»

Sind Sie unter 18 Jahre alt? Besitzen Sie keinen Schweizer Pass? Stehen Sie unter umfassender Beistandschaft? Falls Sie auf eine dieser Fragen mit «Ja» antworten, gehören Sie zu den rund 37 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die auf nationaler Ebene vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen sind.

Alle Menschen sind gleich und verdienen entsprechend dieselben Rechte: Dieser Traum steckte auch in der Schweizer Bundesverfassung von 1848, inspiriert von der griechischen Antike, vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, von der Französischen Revolution. In der Realität blieb die Gleichheit allerdings auf eine exklusive Gruppe beschränkt. 1848 durfte «jeder Schweizer, der das zwanzigste Altersjahr zurückgelegt hat», abstimmen und wählen. Frauen waren bekanntlich nicht mitgemeint.

Hier bloggt das Schweizerische Nationalmuseum
Mehrmals wöchentlich spannende Storys zur Geschichte der Schweiz: Die Themenpalette reicht von den alten Römern über Auswandererfamilien bis hin zu den Anfängen des Frauenfussballs.
blog.nationalmuseum.ch

Keine Stimme ohne Pass

Auch wer keinen Schweizer Pass hatte, war nicht zu den Urnen zugelassen. Einzig im Kanton Neuenburg erhielten Ausländer bereits ab 1849 das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene. Danach dauerte es 130 Jahre, bis der neugegründete Kanton Jura 1979 als zweiter Kanton das kommunale Stimmrecht für Ausländer – und jetzt auch Ausländerinnen – einführte.

Damit schien allerdings ein Trend gesetzt: Mit der Waadt seit 2002 und Freiburg seit 2006 kennen heute zwei weitere Westschweizer Kantone das Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf Gemeindeebene, jeweils gebunden an eine minimale Aufenthaltsdauer. Überdies bestehen seit 1995 in Appenzell Ausserrhoden, seit 2004 in Graubünden, sowie seit 2005 in Genf und Basel-Stadt verschiedene Möglichkeiten, die Wohnbevölkerung ohne Schweizer Pass an der Gemeindepolitik zu beteiligen.

Auf kantonaler Ebene führten ebenfalls der Jura 1979 und Neuenburg 2001 entsprechende Gesetze zum Stimmrecht für Ausländerinnen und Ausländer ein. Auf Bundesebene darf nach wie vor nur mitbestimmen, wer einen Schweizer Pass besitzt. Eine demokratische Grundforderung aus dem 18. Jahrhundert bleibt damit unerfüllt: «Keine Steuer ohne Stimme».

Vielerorts Voraussetzung für politische Rechte: Ein Schweizer Pass. Exemplar von 1945.
Vielerorts Voraussetzung für politische Rechte: Ein Schweizer Pass. Exemplar von 1945.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Keine Stimme ohne Mündigkeit

Die Einführung des Frauenstimmrechts vor 50 Jahren war die grösste Ausweitung der politischen Rechte in der Schweiz. 20 Jahre später kam eine wesentlich kleinere Gruppe in den Genuss derselben Rechte: Die Erwachsenen senkten am 3. März 1991 per Volksentscheid das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre. Die Jungen, wurde argumentiert, seien politisch interessiert und informiert, berufstätig und zahlten Steuern, in einer alternden Gesellschaft müssten ihre Bedürfnisse repräsentiert bleiben.

Mit ganz ähnlichen Überlegungen senkte Glarus 2007 das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre, als bislang einziger Kanton. In den letzten Jahren wird dieser Schritt immer stärker auch auf nationaler Ebene diskutiert. Damit wiche das Stimmrechts- vom Mündigkeitsalter ab. Nach der Abstimmung von 1991 war das bereits einmal der Fall – bis 1996 auch das Mündigkeitsalter auf achtzehn Jahre gesenkt wurde.

Keine Stimme ohne Urteilsfähigkeit

Weist ein Mensch ein besonderes Mass an Hilfsbedürftigkeit auf und gilt als urteilsunfähig, wird er unter die sogenannte umfassende Beistandschaft gestellt. Die Schweiz entzieht Menschen unter umfassender Beistandschaft ihre politischen Rechte. Diese Praxis steht vermehrt in der Kritik, seit die Schweiz 2014 die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat. Viele der rund 14’000 betroffenen Personen können sich durchaus eine politische Meinung bilden und am politischen Prozess teilnehmen. Eine Anpassung an die in der Behindertenrechtskonvention garantierten politischen Rechte hat bisher allerdings einzig der Kanton Genf vorgenommen. Hier wird urteilsunfähigen Personen seit 2020 das Stimm- und Wahlrecht nicht länger entzogen.

Mit den unter umfassender Beistandschaft stehenden Personen, den Minderjährigen und den Ausländerinnen und Ausländern besitzt über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung weder Stimm- noch Wahlrecht. Dieser Ausschluss wird gerne damit gerechtfertigt, dass diese Gruppen nicht reif genug seien, eine qualifizierte Stimme abzugeben. Dasselbe wurde bis 1971 auch den Frauen zugeschrieben. Im Rückblick kann man darüber nur staunen. Im besten Fall hilft diese Irritation dabei zu fragen, wieso nach wie vor über ein Drittel der Wohnbevölkerung nur eingeschränkt am politischen Prozess teilhaben kann.

Dabei ist es wenig entscheidend, ob ein allfälliges neues Wähler- und Wählerinnensegment dann auch wirklich an die Urnen strömte. In der Schweiz verzichtet bereits seit fünfzig Jahren stets mehr als die Hälfte der Stimmbevölkerung darauf, sich an den Abstimmungen zu äussern. Aber zwischen dem Recht auf eine Stimme und der Ausübung dieses Rechts besteht ein grosser Unterschied. Am Schluss bleibt auch der Entscheid, seine politischen Rechte nicht wahrzunehmen, ein Privileg.

Jetzt wählen!
09.09.2021 – 14.01.2022
Schweizerische Nationalbibliothek

Die Schweizerische Nationalbibliothek in Bern zeigt bis zum 14. Januar 2022 die Ausstellung «Jetzt wählen! Über das Recht auf eine Stimme». Darin beleuchtet sie ausgewählte Aspekte der Geschichte und Gegenwart der Mitsprache in der Schweiz. Einblicke in die Ausstellung bietet die Webseite www.nationalbibliothek.ch.
Plakat Ausstellnug «Jetzt wählen!»
Bild: Schweizerische Nationalbibliothek
>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Stimmlos» erschien am 26. November.
blog.nationalmuseum.ch/2021/11/stimmlos

So dreist werden die russischen Wahlen manipuliert

Video: watson/een
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Der Wahlsonntag in Bildern
1 / 21
Der Wahlsonntag in Bildern
Eine Wahlhelferin in Zürich sortiert Wahlzettel.
quelle: ap / ennio leanz
Auf Facebook teilenAuf X teilen
So funktionieren die Bundestagswahlen
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
122 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Macca_the_Alpacca
05.12.2021 18:07registriert Oktober 2021
Jeder Ausländer der in der Schweiz lebt kann die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragen. Ich kenne indessen viele Ausländer die explizit keinen Schweizer Pass wünschen. Nun, kein Pass, keine Stimmrecht, das sehe ich jetzt absolut kein Problem. In welchem Land könnte ich denn als Schweizer ohne Pass des Landes abstimmen? Liste bitte unten anfügen.

Sollen wir Kinder abstimmen lassen? Es ist lange bekannt, dass das menschliche Gehirn erst mit etwa 25 Jahren ausgereift ist. ergo lassen wir keine Kinder abstimmen, das ist schon richtig so.
17278
Melden
Zum Kommentar
avatar
stadtzuercher
06.12.2021 08:48registriert Dezember 2014
Früher (bis Anfang 20 Jh) war das Stimmrecht an die Dienstpflicht gekoppelt.

Heute zwingt man die Schweizer Männer einfach so in den Dienst.

Über diese Diskriminierung der jungen Schweizer Männer lese ich in den Medien erstaunlicherweise nie etwas.
207
Melden
Zum Kommentar
avatar
glointhegreat
05.12.2021 23:13registriert Dezember 2014
Ameisen und der Fuchs im Wald haben auch kein Stimmrecht. Steine übrigens auch nicht. .... Ein Skandal
3424
Melden
Zum Kommentar
122
Junge Menschen kommen erst spät in Kontakt mit Bücherlesen – Vorlesen hilft

Junge Menschen kommen heute später in Kontakt mit dem Bücherlesen als früher. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie «Bock auf Buch! – Wie junge Menschen heute Bücher finden und kaufen», die am Donnerstag während der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurde. In Auftrag gegeben hatte die Studie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen beim Consumer Panel Services GfK.

Zur Story