Ungarn will in einem «Anti-Pädophilen-Gesetz» verbieten, dass Kinder und Jugendliche mit Inhalten über Homosexualität, Geschlechtsangleichung und trans Identität in Berührung kommen. Davon betroffen wären nicht nur private Firmen wie Magazine oder Kinos, sondern auch Schulen, was als starke Einschränkung der Informationsrechte queerer Jugendlicher gewertet wurde. Die Kritik daran war unübersehbar: In vielen europäischen Städten wurden Regenbogenfahnen gehisst und Fussballstadien farbig beleuchtet. Die EU sprach gar von einer «Schande».
Und die Schweiz? Das Land, das sich als Hort und Verteidigerin der Menschenrechte versteht, war überraschend leise. Überraschend deshalb, weil sich die Schweiz 2016 mit einer Reihe anderer Staaten zu LGBTQI-Rechten in Ungarn äusserte und Gewalt sowie Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität verurteilt hatte.
Die Schweiz hätte am vergangenen Freitag diese Position nochmals zum Ausdruck geben können. Bundesrat Ueli Maurer besuchte an diesem Tag seinen ungarischen Amtskollegen Varga Mihály in offizieller Mission. Fragt man jedoch in Maurers Finanzdepartement nach, ob auch über die Kritik am homo- und transphoben «Anti-Pädophilen-Gesetz» gesprochen wurde, kriegt man keinen Kommentar. Man hätte zur offiziellen Medienmitteilung «nichts hinzuzufügen», teilt Maurers Sprecher auf Anfrage mit.
Damit bleibt offen, ob die LGBTQI-Rechte angesprochen wurden: Entweder äusserte Maurer Kritik zum ungarischen Gesetz und will das nicht öffentlich zugeben. Oder er thematisierte die Menschenrechte gar nicht. Das Schweigen würde in beiden Fällen irritieren, angesichts der sonst wortreichen Kommunikation über Maurers Besuch in Budapest.
Offizieller Schweizer Stellungnahme zufolge ging es dabei um «bilaterale und multilaterale Steuerfragen». Im Fokus steht derzeit der vom Club der Industrienationen (OECD) vorgeschlagene globale Mindeststeuersatz. Vereinfacht gesagt geht es dabei um das Stopfen existierender Steuerlöcher, von denen etwa Grosskonzerne profitieren können: Geht es nach dem OECD-Plan, soll überall für Unternehmen ein Mindeststeuersatz von 15 Prozent gelten. Zudem werden eine «Digitalsteuer» und Änderungen beim Besteuerungsort vorgeschlagen, die vor allem Tech-Konzerne wie Facebook oder Alphabet (Google) treffen wird.
Der Schweiz dürften diese Pläne nicht gefallen, weil einige Kantone mit ihrer Steuerpolitik Standortvorteile anbieten wollen. Ein bekennendes oder ablehnendes Statement war dazu jedoch vom Bundesrat noch nicht zu hören. Finanzminister Ueli Maurer zeigte sich im April einer globalen Steuerreform noch offen: «Wir haben am Schluss lieber eine globale Lösung, die Sicherheit bietet. Sie muss aber moderat sein. Das heisst auf einem Niveau, das für die Schweiz annehmbar sein muss.» Ebenfalls im April sagte Maurer, der Vorschlag sei für die Schweiz «verkraftbar», weil die Eidgenossenschaft auch andere Standortvorteile vorzuweisen habe als die Steuern.
Maurer wiederholte diese ergebnisoffene und skeptische Haltung im Juni, als er vom Parlament zu deutlicheren Worten aufgefordert wurde. Kritischer klingt der Bundesrat nun aber, wenn man sich die ungarische Presse nach seinem Besuch in Bundapest durchliest. Maurer kommt dort zwar nicht persönlich zu Wort, der ungarische Finanzminister Varga Mihály sagt jedoch, dass die Schweiz und Ungarn in verschiedenen Punkten einer Meinung seien. So etwa «eine globale Mindeststeuer Innovation und Wirtschaftswachstum behindern würde, der vorgeschlagene Steuersatz von 15 Prozent zu hoch ist und die reale Wirtschaftstätigkeit nicht belasten sollte».
Varga Mihály gilt als einer der lautesten Kritiker der internationalen Steuerreform. Er mobilisiert derzeit OECD-Mitgliedsstaaten dazu, sich «für den Erhalt des Steuerwettbewerbs» einzusetzen – Varga tut dies rhetorisch überspitzt und spricht dabei gerne von der «Biden-Steuer». Ob sein Engagement dagegen erfolgreich sein wird, zeigt sich frühestens im Juli am Treffen der G-20-Staaten in Venedig, wo erste Entscheide zur Steuerreform erwartet werden.
Varga dürfte dabei die Schweiz und Bundesrat Ueli Maurer als Partner betrachten. Beide Staaten positionieren sich als Tiefsteuerländer. Varga bezeichnete Maurer nach ihrem Treffen sogar öffentlich als «alten Freund», dazu ein Bild, wie sich die beiden Herren die Hand geben. Ob dabei nur Gemeinsamkeiten oder auch Kritik am sogenannten «Anti-Pädophilen-Gesetz» diskutiert wurden, bleibt ein Geheimnis der beiden Finanzminister.
Maurers Auftritt sorgt im Bundeshaus für Stirnrunzeln. Einerseits wegen seines Schweigens zum homo- und transphoben Gesetz. «Die ungarische Gesetzgebung gegen die LGBTQI-Community verletzt grundlegende Menschenrechte und ist absolut inakzeptabel. Die Schweiz hat eine Verantwortung, Ungarn an die Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen zu erinnern», sagt SP-Nationalrat Fabian Molina. Sollte Maurer tatsächlich dies bei seinem Gespräch in Ungarn nicht thematisiert haben, so zeuge das laut Molina «von Ignoranz gegenüber dem verfassungsmässigen Auftrag in der Aussenpolitik und Opportunismus».
Kritische Töne auch von der FDP-Politikerin Christa Markwalder: «Wenn die Menschenrechte überhaupt nicht angesprochen wurden, dann ist das eine verpasste Chance für die Schweiz. Bei solchen bilateralen Treffen gehören meiner Meinung nach auch Themen auf die Traktandenliste, bei denen man sich nicht einig ist.» Markwalder weiss, dass das nicht immer einfach ist: 2016, als sie Präsidentin des Nationalrates war, besuchte sie Ungarn, wo sie unter anderem mit den Politikern von Viktor Orbáns Fidesz-Partei über die Asylpolitik diskutierte. Das seien, diplomatisch ausgedrückt, sehr «leidenschaftliche Gespräche» gewesen, erinnert sich Markwalder. «Ich hätte vom Bundesrat kein Menschenrechtsseminar in Budapest erwartet. Angesichts der europaweit geäusserten Kritik am ungarischen Gesetz wirft es aber kein gutes Licht auf die Schweiz, wenn wir bei solchen bilateralen Treffen umstrittene Themen ausklammern.»
Es ist nicht das erste Mal, dass Maurer mit seiner Passivität gegen Homophobie auffällt. 2020 sagte der Bundesrat über den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, dass sich «dumme Sprüche und Diskriminierungen gegen einen gewählten Präsidenten» nicht gehören würden. Damit äusserte sich Maurer zu Bolsonaros zuvor geäusserten menschenfeindlichen Aussagen, die sich auch gegen seine eigenen Kinder richteten. So sagte Bolsonaro: «Ich könnte einen homosexuellen Sohn nicht lieben. Ich werde da nicht scheinheilig sein. Ich würde es vorziehen, dass mein Sohn bei einem Unfall ums Leben kommt, als dass er hier mit einem Typen mit Schnurrbart auftaucht.»
Maurers Motto ist ja eh «I can nothing say» und "kei Luscht".
Ich mag ihm seinen Ruhestand von Herzen gönnen. Bitte möglichst bald.