«Ich hatte mein ganzes Leben finanzielle Probleme. Gereicht hat es nie.» Das sagt Renate Wild, zweifache Mutter und verwitwet. Wild gehört zu den 702'000 Personen, die in der Schweiz 2022 in Armut lebten.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat die gebürtige Österreicherin mehrere zehntausend Franken Steuerschulden angehäuft. Ihr Einkommen, bestehend aus Witwenrente und einigen hundert Franken Lohn durch Reinigungsarbeiten, wird gepfändet.
Wild lebt von 2300 Franken im Monat. Jeder Rappen über dem Existenzminimum wandert direkt an das Betreibungsamt, die Einschränkungen im Alltag sind gross.
Die Möbel in ihrer Wohnung in Bischofszell TG erhielt sie geschenkt. Die Kleider sind Secondhand, beim Einkaufen schaut Wild auf 50-Prozent-Kleber, Fleisch gibt es – wenn überhaupt – alle zwei Monate. Ein Auto hat sie keines, in die Ferien reist die 55-Jährige nie. Auch den ÖV in der Schweiz kann sie sich nur selten leisten.
Die armutsbedingte soziale Ausgrenzung sei spürbar. Wenn Wild das Bedürfnis hat, den Kopf zu lüften, fährt sie mit dem Velo durch die Gegend oder geniesst auf dem kleinen Balkon die Sonne. Das letzte Mal geflogen ist Wild vor sieben Jahren, damals – auf ihr 5-Jahre-Abstinenz-Jubiläum – hat ihre Tochter sie mit einem Aktionsangebot in die Ferien nach Sardinien eingeladen.
Trotz all dieser Entbehrungen: Ihre Schulden wird Wild aller Voraussicht nach nie abbezahlen können.
Hätte sich die heute 55-Jährige nicht einfach etwas mehr Mühe geben können? Fehlte es an Einsatz und Ehrgeiz? Am Willen, es im Leben zu etwas zu bringen?
Solche Vorurteile hörten Armutsbetroffene oft, sagt Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Masé betont jedoch: «Aus meiner Sicht ist Armut ein strukturelles Problem. Und immer wieder schlägt auch das Schicksal zu.»
Das Schicksal.
Dieses hat sich bei Renate Wild einmal heftig gemeldet. Doch der Reihe nach.
Wild wächst mit vier Brüdern in der 3000-Seelen-Gemeinde Kötschach-Mauthen im österreichischen Bundesland Kärnten auf. Nicht in Armut, aber bescheiden. «Wir konnten nicht in die Badi. Aber es gab ab und zu ein Eis. Man hat einander geholfen. Wir waren zufrieden.»
Nach der obligatorischen Schulzeit absolviert Wild eine Lehre in einer Papeterie, danach möchte sie nach Berlin, wo ihre beste Freundin lebt. «Ich wollte ausbrechen. Weg aus unserem Dorf, wo jeder jeden kennt, wo man im Ort heiratet und alles immer gleich bleibt.»
Ihre Mutter rät ihr von Berlin ab und schlägt die Schweiz als Destination vor. 1987, als 19-Jährige, verlässt Wild das Elternhaus und zieht in den Kanton Appenzell Ausserrhoden. Im Kinderparadies Sedel in Herisau findet sie eine Stelle im Service.
Sie lernt ihren zukünftigen Mann Stefan* kennen, wird unerwartet schwanger. Die Hochzeit im November 1989 findet nur vier Tage vor der Geburt von Tochter Andrea* statt. Ihr Mann arbeitet als Autolackierer, Wild schaut zu ihrem Kind und hilft ab und zu in der Pizzeria ihrer Schwiegereltern aus.
Stefan sei ein «einfacher, lässiger Mann gewesen, kein Angeber». «Wir genossen das Leben, hatten eine schöne Wohnung und waren glücklich.»
Das Glück.
Es ist von überschaubarer Dauer. Kurz und intensiv, wenn man so will.
Renate Wilds Ehemann ist drogenabhängig. Er ist es schon gewesen, als sie sich kennenlernten, auch wenn Wild in ihrer jugendlichen Naivität zunächst nichts von seinem Heroinkonsum bemerkt. «Ich dachte, der trinkt oder kifft ab und zu eins. Heroin wäre mir nie in den Sinn gekommen.»
Bei der Geburt der Tochter ist Stefan clean. Dann kommt der Rückfall. Wild erhält regelmässig Anrufe aus dem Spital, wenn Stefan wieder eingeliefert wird, muss parallel zu Andrea auch ihren Mann betreuen. Irgendwann platzt ihr der Kragen. Sie holt eine Spritze, injiziert sich selbst Heroin. «In der Verzweiflung wollte ich wissen, wegen welcher Substanz mein Mann seine Familie aufgibt.»
Die euphorisierende, abhängig machende Wirkung tritt nicht ein. Im Gegenteil. «Ich hab den ganzen Abend gekotzt. Als wolle mein Körper nichts mit diesem Teufelszeug zu tun haben.»
Was Wild nach einigen Jahren Ehe jedoch will: die Scheidung. Sie hält es nicht mehr aus. Doch die junge Frau, noch immer keine dreissig, gibt nochmals nach. Stefan kommt ins Methadonprogramm, jeden Tag holt Wild ein Fläschchen des Opioids aus dem Kühlschrank und gibt es ihrem Mann. Das bürgerliche Leben geht weiter, Stefan kommt jeweils über Mittag nach Hause, das warme Essen steht zuverlässig auf dem Tisch.
Renate Wild wird erneut schwanger. Im Jahr 1995 kommt Sohn Lukas* zur Welt, fortan geht die junge Familie zu viert durchs Leben. Irgendwann kehrt Stefan über Mittag nicht mehr wie vereinbart heim. Auf Nachfrage seiner Frau folgen Ausreden. Er habe viel zu tun in der Werkstatt.
Wild hat ein ungutes Gefühl und wird darin bestätigt. Ein Arbeitskollege ihres Mannes raucht Heroin. Trotz Methadon folgt der nächste Rückfall. Stefan greift wieder zur Spritze, verprasst das wenige Geld der Familie. Bis das Heroin einmal zu viel durch seine Adern schiesst.
Der goldene Schuss.
Am 18. Dezember 1997 kurz vor Mitternacht klingelt die Polizei bei Familie Wild an der Wohnungstüre. Das Herz des 33-Jährigen hat aufgehört zu schlagen. Stefan ist tot.
Nun steht Renate Wild, 29-jährig, alleine da. Mit einer achtjährigen Tochter und einem zweijährigen Sohn. Mit einem minimalen Einkommen, bestehend aus Witwen- und Waisenrente.
Erschwerend kommt hinzu, dass ihre Schwiegereltern sie für den Tod ihres Mannes verantwortlich machen. Der Kontakt bricht ab, an der Beerdigung der Schwiegermutter – die Grossmutter von Andrea und Lukas – nehmen weder Wild noch die Kinder teil. Als sie über deren Tod informiert werden, ist die Verstorbene bereits beerdigt.
«Zur Sozialhilfe ging ich nie, dafür habe ich bis heute viel zu viel Stolz», betont die 55-Jährige im Gespräch mehrfach. Wild sucht sich wieder einen Job im Service, jobbt Teilzeit. Doch die Geldprobleme bleiben.
Zum finanziellen Stress gesellen sich die Belastungen einer alleinerziehenden Mutter von zwei kleinen Kindern. Wild kommt an ihre Grenzen, braucht ein Ventil. Entspannung findet sie im Alkohol. Mit 29 Jahren wird sie süchtig.
Die Sucht.
Sie macht, dass der noch immer jungen Mutter das Leben komplett entgleitet. Auch weil sie zugibt: «Ich hatte schon immer ein etwas problematisches Alkoholverhalten. Oft habe ich meinen Stress mit Alkohol betäubt. Ausser in den beiden Schwangerschaften, da trank ich keinen Tropfen.»
Wäre sie nicht vollends in die Armut geraten, wenn ihr Mann noch am Leben wäre? Wild überlegt einen Moment und sagt dann: «Ich möchte nicht alles auf den Tod von Stefan zurückführen. Doch ohne das Heroin wäre unser Leben sicher besser verlaufen.»
In den folgenden Jahren bedient sich Renate Wild der gesamten Alkoholiker-Klaviatur. Sie füllt Wein zur Tarnung in Rivellaflaschen ab, belügt ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Kinder und ihren neuen Partner, trinkt achtzigprozentigen Strohrum, der ihr fast die Kehle verätzt, vegetiert Tage und Wochen vor sich hin.
«Der Alkohol ist des Teufels. Der ist in jeder Zelle. Den kriegst du nicht raus», sagt Wild heute. Gleichzeitig ist sie dem Alkohol auf eine seltsame Weise auch sehr dankbar. Er lässt sie vergessen. «Wüsste ich heute noch alles, was ich damals erlebt habe, ich würde vermutlich durchdrehen.»
Die Folgen sind heftig: Nach Jahren des Konsums hat auch ihre eigene Familie genug und wendet sich von ihr ab. Als es um das Erbe ihrer Eltern in Österreich geht, wird sie von den eigenen Brüdern über den Tisch gezogen. «Ich habe unter Alkoholeinfluss etwas unterschrieben und erhielt dann nichts.» Ihr Leben wird in jeglichen Bereichen ein existenzieller Kampf.
Irgendwann ist das Mass auch bei Wilds Partner voll. Kurz vor ihrem 44. Geburtstag kommt es zum lebensverändernden Ultimatum. Beziehung oder Alkohol. Wild dreht durch, trinkt sich tagelang ins Koma. Und plötzlich ist sie sich schlüssig.
Der Schlusspunkt.
Wild will aufhören. Dieses Ziel verfolgen zwar fast alle Alkoholiker immer mal wieder, doch Wild zieht es durch. Ohne Klinik, nur geleitet vom eigenen Willen. Vier Tage kalter Entzug, ein absoluter Horror für Körper und Psyche. Dann verschreibt ihr der Arzt ein Medikament, das das Verlangen nach Alkohol unterdrückt.
Rückfällig wird die heute 55-Jährige nie. Seit 12 Jahren ist sie nun trocken. Die Armut jedoch bleibt und wird sie ein Leben lang begleiten.
Wild erzählt eine Geschichte, die für nicht von Armut betroffene Menschen nur schwer zu ertragen ist. Vor ein paar Jahren beginnen sich ihre Vorderzähne zu lockern. Wild hat immer mehr Mühe beim Essen, beim Reden, den Zahnarzt kann sich die 55-Jährige aber nicht leisten, also legt sie Hand an und zieht sich nacheinander vier Zähne selbst. «Die Zahnlücken sahen sehr doof aus, aber was willst du machen?»
Auf Anraten einer Freundin meldet sie sich nach dem Zähneziehen bei Caritas Thurgau. Die Organisation würde für die Kosten der Zahnsanierung aufkommen, sollten diese nicht von den Ergänzungsleistungen, die Wild bezieht, getragen werden. Die Ersatzzähne hat Wild bereits, sie ist darüber erleichtert und der Caritas sehr dankbar.
Was sich am Beispiel von Wild ebenfalls exemplarisch zeigt: wie Armut vererbt werden kann. Kinder von armutsbetroffenen Eltern hätten einen schwierigeren Start ins Leben, was den weiteren Weg in Bezug auf Ausbildung und Beruf oft vorzeichne, sagt Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz.
Sie seien durch die prekäre finanzielle Situation der Eltern auch in ihrer sozialen Entwicklung eingeschränkt. «Eltern müssen entscheiden, ob sie ihr Geld für eine Freizeitaktivität der Kinder oder für Lebensmittel ausgeben.»
Wilds Tochter Andrea macht finanziell keine grossen Sprünge, lebt jedoch unabhängig. Anders sieht es bei Sohn Lukas aus. Nach der Lehre im Detailhandel und dem Militär ist der junge Mann zwei Jahre arbeitslos, gerät in erste Schulden, heute wird auch sein Lohn immer mal wieder gepfändet. Inzwischen würden potenzielle Arbeitgeber nach Betreibungen fragen, was seine Situation zusätzlich verkompliziere.
Wie seine Mutter lebt der 28-Jährige aktuell von der Hand in den Mund. Die beiden helfen sich gegenseitig aus, drücken sich zur Not auch mal eine 20er-Note in die Hand.
Wild betont, im Rahmen des Möglichen alles für ihre Kinder gemacht zu haben. Auch wenn es für Ferien oder schöne Kleider nie gereicht habe, Andrea und Lukas seien jeden Tag pünktlich in der Schule gewesen, die Hausaufgaben hätten sie gemeinsam erledigt, ein kleines Weihnachtsgeschenk habe es immer gegeben. «Ich habe hauptsächlich bei mir gespart.»
Die Kinder sind längst erwachsen, die 55-Jährige könnte ihr berufliches Pensum also theoretisch aufstocken. Nach allem, was passiert ist, fehlen ihr jedoch Energie und Motivation. Die jahrzehntelange Arbeit als Putzkraft hat am Körper Spuren hinterlassen. «Ich bin aber oft ehrenamtlich unterwegs, helfe zum Beispiel älteren Menschen beim Einkaufen.»
Finanzielle Anreize, ein höheres Einkommen zu generieren, gibt es nicht. Mehr als das Existenzminimum wird Wild aufgrund ihrer Schulden nie erhalten.
Trotz eines Lebens in Armut, unglücklich sei sie nicht, sagt Renate Wild am Ende des Gesprächs. Man müsse ihr die Steuerschulden auch nicht erlassen. Manchmal wünscht sich die 55-Jährige jedoch ein etwas zuvorkommenderes, verständnisvolleres Vorgehen der Behörden in Bischofszell. Immer wieder werde sie aufgrund ihrer Armut abfällig behandelt, sagt Wild, man hänge ihr teils das Telefon auf oder gehe gar nicht ran.
«Es ist, wie es ist, vielleicht gebe ich mir irgendwann nochmals einen Ruck und versuche, meine Schulden ganz zu tilgen.»
*Namen von der Redaktion geändert.
Das Problem an jeder Sucht ist, das Süchtige oft ihre Sucht nicht merken oder diese verneinen und das andere ist, dass die Gesellschaft es nicht schaft, Süchtige zu verstehen und ihnen entsprechende Hilfe anzubieten. Süchtige werden sehr oft alleine gelassen, und man hört andere sagen, die sind ja selber Schuld. So einfach ist das aber nicht. Würde man die Suchthilfe verstärken, könnte man vielen Menschen helfen.