International
Ukraine

Ist ein russischer Angriff auf Europa näher, als wir glauben?

Ist ein russischer Angriff auf Europa näher, als wir glauben? Was dafür spricht

Schon in zwei bis drei Jahren könnte Wladimir Putin Nato-Gebiet ins Visier nehmen, warnt Sicherheitsexperte Fabian Hoffmann. Es sei dringend notwendig, eine glaubhafte Abschreckung aufzubauen.
16.01.2024, 05:45
Fabian Hock / ch media
Mehr «International»
epa11071564 Russian President Vladimir Putin during his meeting with Russian Railways CEO Oleg Belozerov, at Novo-Ogarevo residence, outside Moscow, Russia, 12 January 2024. Export transportation thro ...
Greift Wladimir Putin nach dem Baltikum? Die Unentschlossenheit des Westens in der Ukraine könnte den Kreml-Chef zum Handeln motivieren.Bild: keystone

Wolodymyr Selenskyjs Rufe nach mehr Waffen und Munition werden immer verzweifelter. Doch wachrütteln, so scheint es, lassen sich westliche Politikerinnen und Politiker deshalb noch lange nicht. Dies, obwohl die Zeit drängt. Nicht nur für die Ukraine.

Um eine ausreichend starke Abschreckung aufzubauen, die Kreml-Chef Wladimir Putin von einem Angriff auf Nato-Territorium abhalten kann, bleiben uns nur noch zwei bis drei Jahre. Zu dieser Einschätzung kommt Fabian Hoffmann, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Universität Oslo.

Das Worst-Case-Szenario, falls das nicht gelingt, sieht wie folgt aus: Russland könnte in einem ersten, gezielten Schlag Teile des Baltikums angreifen, besetzen und direkt einen nuklearen Schutzschirm darüber aufspannen. Heisst: der Nato klarmachen, dass die versuchte Rückeroberung des russisch besetzten Gebiets mit einem Atomschlag beantwortet werden würde.

Zugleich erfolgten gezielte «Deeskalationsschläge» auch in Westeuropa: Angriffe mit Langstreckenpräzisionswaffen, darunter auch Hyperschallraketen, auf europäische Städte. Zuerst einzelne Nadelstiche, bei denen etwa Umspannwerke oder andere kritische Infrastruktur ins Visier genommen wird. Die Botschaft, die Putin damit an den Westen schicken würde: Wir können euch noch viel mehr weh tun, wenn wir wollen – also kommt gar nicht erst auf die Idee, euch zu wehren.

Russischer MiG-31 Kampfjet mit Kinschal-Hyperschall-Rakete.
Russischer MiG-31 Kampfjet mit Kinschal-Hyperschall-Rakete.Bild: twitter/x

Die russische Bedrohung, sie wäre nicht mehr Tausende Kilometer weiter östlich, sondern im Herzen Europas angekommen.

Putins Trumpf ist das Zögern im Westen

Bloss ein unrealistisches Schreckensszenario? «Wenn wir uns die Unentschlossenheit im Westen bei der Unterstützung der Ukraine ansehen, leider nein», sagt Sicherheitsexperte Hoffmann im Gespräch mit CH Media.

Online hat Hoffmann mit seinem Weckruf bereits eine rege Debatte ausgelöst. Kritiker wenden ein, dass die russische Strategie der sogenannten Deeskalationsangriffe schon in der Ukraine wenig gebracht habe – warum sollte sie gegen den Westen funktionieren? Auch die Entschlossenheit des Westens in der Ukraine sehen manche Beobachter gegeben.

Dennoch: Vor einem möglichen Angriff auf Mitgliedsländer der Nato warnte zuletzt auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. In dieser Woche tauchte ein detaillierter Plan aus dessen Ministerium in deutschen Medien auf, wie ein Angriff der Putin-Armee auf das Baltikum ablaufen könnte.

Pistorius sprach indes von einer Dauer von fünf bis acht Jahren, die Russland bräuchte, um das eigene Militär für einen solchen Angriff fit zu machen. Ist der Zeitrahmen des Sicherheitsforschers Hoffmann von zwei bis drei Jahren also bloss Panikmache?

Dem wäre so, wenn Russland einen konventionellen Krieg gegen die Nato führen wollte. Das habe Putin aber gar nicht im Sinn. Dessen Trumpf sei die Unentschlossenheit seiner Gegner. Hoffmann formuliert es so: «Russland geht es nicht darum, die Nato in einem lange andauernden Kampf niederzuzwingen, sondern durch psychologischen Druck die Entscheidungsträger dazu zu zwingen, Verhandlungen einzugehen.» Der Moment, in dem die Nato Verhandlungen über Teile ihres Gebietes aufnehmen würde, wäre bereits ihr Ende.

Die USA sind und bleiben zentral

Wie lässt sich das nun noch verhindern? «Glaubhafte Abschreckung», sagt Hoffmann. Dies beinhaltet eine massive Aufstockung von Nato-Truppen im Baltikum. Grosse Kontingente an deutschen, französischen, britischen Soldaten an der Nato-Ostgrenze müssten vom ersten Tag an einen russischen Überraschungsangriff abwehren.

Ausserdem sollten die USA Militärequipment in die Region verlegen, um bei Bedarf rasch Soldaten rüberschicken zu können. Die USA sind und bleiben für die Abschreckung zentral. Zuletzt müssten Europas Waffenfabriken die Produktion entschieden hochfahren. Viel Zeit dafür bleibt nicht mehr.

Bis dahin stärkt Russland jeder Erfolg in der Ukraine den Rücken. Jede Uneinigkeit im Westen bei der Unterstützung verfestigt im Kreml das Bild, dass der Nato einfach der Wille oder die Kraft oder beides fehlt.

Oder können wir allenfalls darauf hoffen, dass es Putin doch nicht so ernst meint mit dem Einverleiben von weiterem Staatsgebiet in sein imperiales Reich? In diesen Tagen sind in Moskau und anderen russischen Städten Plakate einer gross angelegten Werbekampagne zu sehen, die die Antwort auf diese Frage geben. Auf ihnen ist zu lesen: «Russlands Grenzen enden nirgends.» (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
415 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
AlfredoGermont
16.01.2024 06:55registriert März 2022
Es ist immer gut, sich bereits auf den nächsten Krieg vorzubereiten, aber nicht, wenn man deswegen den Krieg verliert der gerade läuft. Die ruzzische Aggression zurückzuschlagen wird für die Nato nie mehr so billig sein
39322
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pat da Rat
16.01.2024 07:01registriert Mai 2022
Da die Politiker Europa's jedes Mal ängstlich zusammenzucken, wenn Russland mit Atomwaffen droht, ist dieses Szenario leider durchaus denkbar. Jede russ. Aggression wird von Drohungen des Nuklearwaffeneinsatz begleitet und schon scheeren westliche Politiker aus, schalten in den Appeasement-Modus und glauben man müsse verhandeln. Leider verfängt das nicht bei Putin. Der wird dadurch nur weiter bestärkt, da es für ihn ja funktioniert. Russland versteht und respektiert nur Stärke. Europa (inkl. CH) muss endllich akzeptieren, dass die Zeit des Appeasement vorbeit ist und nicht funktioniert hat.
31622
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rikki-Tiki-Tavi
16.01.2024 07:05registriert April 2020
Es ist oft so, dass Schurken unbehelligt und öffentlich ihre Vorbereitungen für ihre Taten treffen. Alle könn(t)en es sehen, niemand mag es wirklich glauben. Und danach sind alle überrascht.
24712
Melden
Zum Kommentar
415
Trump hat Xi zu Amtseinführung im Januar eingeladen

Der Republikaner Donald Trump hat Chinas Staatschef Xi Jinping zu seiner Vereidigung als US-Präsident im Januar eingeladen.

Zur Story