Wolodymyr Selenskyjs Rufe nach mehr Waffen und Munition werden immer verzweifelter. Doch wachrütteln, so scheint es, lassen sich westliche Politikerinnen und Politiker deshalb noch lange nicht. Dies, obwohl die Zeit drängt. Nicht nur für die Ukraine.
Um eine ausreichend starke Abschreckung aufzubauen, die Kreml-Chef Wladimir Putin von einem Angriff auf Nato-Territorium abhalten kann, bleiben uns nur noch zwei bis drei Jahre. Zu dieser Einschätzung kommt Fabian Hoffmann, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Universität Oslo.
Das Worst-Case-Szenario, falls das nicht gelingt, sieht wie folgt aus: Russland könnte in einem ersten, gezielten Schlag Teile des Baltikums angreifen, besetzen und direkt einen nuklearen Schutzschirm darüber aufspannen. Heisst: der Nato klarmachen, dass die versuchte Rückeroberung des russisch besetzten Gebiets mit einem Atomschlag beantwortet werden würde.
Zugleich erfolgten gezielte «Deeskalationsschläge» auch in Westeuropa: Angriffe mit Langstreckenpräzisionswaffen, darunter auch Hyperschallraketen, auf europäische Städte. Zuerst einzelne Nadelstiche, bei denen etwa Umspannwerke oder andere kritische Infrastruktur ins Visier genommen wird. Die Botschaft, die Putin damit an den Westen schicken würde: Wir können euch noch viel mehr weh tun, wenn wir wollen – also kommt gar nicht erst auf die Idee, euch zu wehren.
Die russische Bedrohung, sie wäre nicht mehr Tausende Kilometer weiter östlich, sondern im Herzen Europas angekommen.
Bloss ein unrealistisches Schreckensszenario? «Wenn wir uns die Unentschlossenheit im Westen bei der Unterstützung der Ukraine ansehen, leider nein», sagt Sicherheitsexperte Hoffmann im Gespräch mit CH Media.
Online hat Hoffmann mit seinem Weckruf bereits eine rege Debatte ausgelöst. Kritiker wenden ein, dass die russische Strategie der sogenannten Deeskalationsangriffe schon in der Ukraine wenig gebracht habe – warum sollte sie gegen den Westen funktionieren? Auch die Entschlossenheit des Westens in der Ukraine sehen manche Beobachter gegeben.
Dennoch: Vor einem möglichen Angriff auf Mitgliedsländer der Nato warnte zuletzt auch der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. In dieser Woche tauchte ein detaillierter Plan aus dessen Ministerium in deutschen Medien auf, wie ein Angriff der Putin-Armee auf das Baltikum ablaufen könnte.
Pistorius sprach indes von einer Dauer von fünf bis acht Jahren, die Russland bräuchte, um das eigene Militär für einen solchen Angriff fit zu machen. Ist der Zeitrahmen des Sicherheitsforschers Hoffmann von zwei bis drei Jahren also bloss Panikmache?
Dem wäre so, wenn Russland einen konventionellen Krieg gegen die Nato führen wollte. Das habe Putin aber gar nicht im Sinn. Dessen Trumpf sei die Unentschlossenheit seiner Gegner. Hoffmann formuliert es so: «Russland geht es nicht darum, die Nato in einem lange andauernden Kampf niederzuzwingen, sondern durch psychologischen Druck die Entscheidungsträger dazu zu zwingen, Verhandlungen einzugehen.» Der Moment, in dem die Nato Verhandlungen über Teile ihres Gebietes aufnehmen würde, wäre bereits ihr Ende.
Wie lässt sich das nun noch verhindern? «Glaubhafte Abschreckung», sagt Hoffmann. Dies beinhaltet eine massive Aufstockung von Nato-Truppen im Baltikum. Grosse Kontingente an deutschen, französischen, britischen Soldaten an der Nato-Ostgrenze müssten vom ersten Tag an einen russischen Überraschungsangriff abwehren.
Ausserdem sollten die USA Militärequipment in die Region verlegen, um bei Bedarf rasch Soldaten rüberschicken zu können. Die USA sind und bleiben für die Abschreckung zentral. Zuletzt müssten Europas Waffenfabriken die Produktion entschieden hochfahren. Viel Zeit dafür bleibt nicht mehr.
Übrigens: Putin macht gerade in Russland Kampagnen mit einem Video, in dem ein Soldat sagt: „Odesa ist eine russische Stadt“ und Plakaten, auf denen steht: „Russlands Grenzen enden nirgends“. Sollte man wissen, wenn man über realistische Wege zum Frieden sprechen möchte.
— Nico Lange (@nicolange_) January 15, 2024
Bis dahin stärkt Russland jeder Erfolg in der Ukraine den Rücken. Jede Uneinigkeit im Westen bei der Unterstützung verfestigt im Kreml das Bild, dass der Nato einfach der Wille oder die Kraft oder beides fehlt.
Oder können wir allenfalls darauf hoffen, dass es Putin doch nicht so ernst meint mit dem Einverleiben von weiterem Staatsgebiet in sein imperiales Reich? In diesen Tagen sind in Moskau und anderen russischen Städten Plakate einer gross angelegten Werbekampagne zu sehen, die die Antwort auf diese Frage geben. Auf ihnen ist zu lesen: «Russlands Grenzen enden nirgends.» (aargauerzeitung.ch)