Was die Initianten des Volksbegehrens «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» sagen, klingt plausibel: Wird ein Pädophiler verurteilt, soll er nicht mehr mit Kindern oder Abhängigen arbeiten dürfen, weder im Beruf noch in der Freizeit. Es gebe keinen Interpretationsbedarf oder ein Problem mit der Verhältnismässigkeit, meinen die Befürworter.
Doch das stimmt nicht. Davon sind zumindest die Gegner der «Pädophileninitiative», zu denen auch der Bundesrat gehört, überzeugt. Das Departement von Justizministerin Simonetta Sommaruga müsste die Initiative umsetzen – und befände sich in einem Dilemma.
Das sind die Gründe dafür:
Die Annahme der Initiative hält keinen einzigen verurteilten Pädophilen von Kindern fern. Damit ein Gericht jemandem verbieten kann, je wieder mit Kindern zu arbeiten – was die Initiative in ihrem Kern verlangt – muss es sich auf einen entsprechenden Gesetzesartikel stützen können. Die Initiative hat lediglich einen Verfassungsartikel zur Folge. Wie sie auf Gesetzesebene umgesetzt werden kann, ist noch völlig offen.
Die vage Formulierung des Initiativtexts lässt sehr viel Interpretationsspielraum zu. Es ist zum Beispiel nicht klar, bei welcher Straftat das Tätigkeitsverbot genau anzuwenden wäre.
Die Initiative enthält einen Automatismus, der nicht kompatibel ist mit unserem Rechtsstaat. Jeder wegen sexueller Handlungen mit Minderjährigen Verurteilte dürfte künftig nie wieder eine Tätigkeit im Umfeld von Kindern ausüben. So könnte beispielsweise ein 19-Jähriger, der eine Beziehung mit einer 15-Jährigen hat, nie eine Lehrerausbildung beginnen. Zudem würde jemand, der einem Minderjährigen pornografisches Material zukommen lässt, gleich hart bestraft wie ein Kinderschänder.
Die Initiative lässt offen, für welche Straftaten das Berufsverbot ausgesprochen werden soll. Das widerspricht dem Prinzip der Verhältnismässigkeit. Oder wie es Justizministerin Simonetta Sommaruga formulierte: «Wir können die Initiative nicht so umsetzen, wie es im Verfassungstext steht. Wir wissen das schon jetzt und können der Bevölkerung nicht etwas anderes vormachen.»
Bei Annahme der Initiative hätten die Richter und Gerichte keine Möglichkeit mehr, den Einzelfall zu betrachten und zu entscheiden, ob ein Berufsverbot die geeignete Massnahme ist, um potentielle weitere Opfer vor einem Verurteilten zu schützen.
Niemand will, dass ein verurteilter Pädophiler und möglicher Wiederholungstäter eine Tätigkeit ausüben kann, in welchem er Zugang zu neuen Opfern hätte. Deshalb hat das Parlament im Dezember 2013 das neue Bundesgesetz über das Tätigkeitsverbot und das Kontakt- und Rayonverbot verabschiedet. Über dieses neue Bundesgesetz wird nicht abgestimmt. Es tritt am 1. Januar 2015 in Kraft, unabhängig davon, ob die Initiative angenommen wird oder nicht.
In diesem neuen Gesetz ist ebenfalls ein zwingendes Berufsverbot für Sexualstraftäter vorgesehen, deren Opfer Minderjährige waren. Doch das neue Gesetz respektiert die rechtsstaatlichen Prinzipien und lässt den Richtern einen Ermessensspielraum zu. Die Voraussetzung für ein zwingendes Berufsverbot ist, dass ein Verurteilter mindestens sechs Monate Gefängnis bekommt oder eine stationäre Massnahme angeordnet wird. Dies geschieht immer dann, wenn die begangene Straftat von einer gewissen Schwere ist. Eine Jugendliebe fällt beispielsweise nicht darunter.
Das neue Gesetz geht weiter, als es die Initiative verlangt. Gerichte können das Verbot auch bei schweren Straftaten aussprechen, die keinen sexuellen Hintergrund haben. Weiter kann das Gericht einem verurteilten Straftäter nicht nur eine Tätigkeit mit Kindern verbieten, sondern auch Kontakt- und Rayonverbote anordnen. Das könnte zum Beispiel gegen jemanden, der die eigenen Kinder verprügelt hat, ausgesprochen werden.
Will der Bundesrat die Initiative wortgetreu umsetzen, wird das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismässigkeit verletzt. Setzt er sie nicht wortgetreu um, wird man sagen können, der Volkswille sei nicht respektiert worden. Für dieses Dilemma gibt es keine Lösung.
Dass sich der Bundesrat allerdings in der unglücklichen Lage befindet, eine Initiative bekämpfen zu müssen, die daherkommt wie der gesunde Menschenverstand, aber bei näherer Betrachtung nicht nur rechtsstaatliche Prinzipien verletzt, sondern inhaltlich gesehen auch nicht mehr nötig ist, hat sich die Politik selbst zuzuschreiben.
Die Schweiz hat 1996 am ersten Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Stockholm sowie erneut an den späteren Kongressen die Schlusserklärungen mitunterzeichnet, die die Erarbeitung eines Nationalen Aktionsplanes zum Schutz der Kinder vor kommerzieller sexueller Ausbeutung vorsahen.
Der Absichtserklärung der Schweiz folgten allerdings keine Taten auf nationaler Gesetzesebene. Hätte man sich damals daran gemacht, unverzüglich ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten, statt bis 2013 zu warten, wäre es wohl nicht dazu gekommen, dass das Land schon wieder im Begriff ist, sich einen untauglichen Artikel in die Verfassung zu schreiben.