Ein junger Äthiopier verlässt aus Angst sein Land. In Richtung Westen, in Richtung des hochgelobten Europas – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Eher zufällig landet er in der Schweiz – und kurz darauf im Knast. Sein Verderben? Seine angenehme Stimme.
Das ist die Geschichte, die der Strafverteidiger vor dem Bezirksgericht Winterthur über seinen Mandanten erzählt, den er als gläubig, naiv und einfach beschreibt. Ein junger Mann, 25, noch gar nicht lange der Pubertät entwachsen. Einer, der gerne Fussball spielt und am Wochenende in den Ausgang geht. Der Sohn eines Viehhändlers und einer Kioskverkäuferin, die ihren Kunden Tee ausschenkt. Gewiss alles andere als der Hassprediger, als den er in den Medien dargestellt wird, so der Verteidiger. Alles andere als den Gewaltaufwiegler, den die Staatsanwaltschaft in ihm sieht.
Deren Vorwurf: Der Äthiopier hätte wissentlich und willentlich zur Tötung von Menschen aufgerufen. Zudem zur Brandstiftung. Zur Nötigung. Zur Körperverletzung. Sein Aufruf habe gegen all jene Muslime gezielt, die seiner Meinung nach zu wenig oder falsch beten.
Der wichtigste Beweis der Staatsanwaltschaft: Eine Tonaufnahme vom 21. Oktober 2016, 13.45 Uhr. An jenem Tag predigte der Äthiopier in der An'Nur Moschee in Winterthur zum allerersten Mal an einem Freitagsgebet. Vor rund 60 Gläubigen, in jener Moschee, die schon zuvor unter besonders grosser Beobachtung stand, bevor der Äthiopier überhaupt einen Fuss in das Gebäude setzte.
Spätestens seit 2015 galt die An'Nur Moschee als Rekrutierungszentrum für zukünftige Kämpfer für den sogenannten «Islamischen Staat». Mehrere regelmässige Moscheebesucher reisten nach Syrien. Das prominenteste Beispiel: Der frühere Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi, der bei einem Bombenangriff starb. Am 4. Juli. 2015.
Nach eigenen Angaben kommt der junge Äthiopier zum ersten Mal während des Ramadans 2016 in den Kontakt mit der An'Nur Moschee. In Form einer Einladung zum Essen. Danach sucht er regelmässig die Moschee zum Beten auf. Als einer von vielen Gläubigen.
Einige Monate später wird die Rolle des Asylbewerbers innerhalb der Religionsgemeinschaft wichtiger. Der bisherige Imam der Winterthurer Moschee verlässt die Schweiz, hinterlässt in der Religionsgemeinschaft eine Lücke, die sich nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nicht so einfach füllen lässt.
Diese hätte von nun an der 25-Jährige ausgefüllt, sagt die Staatsanwaltschaft. Wofür er einen Monatslohn von 600 Franken kassiert hätte, ein weiterer Punkt der Anklage. Denn als Asylsuchender ist es ihm nicht erlaubt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Er selber bezeichnet das Geld als ein Geschenk und bestreitet, jemals als Imam gearbeitet zu haben. Weder vorher, noch in Winterthur. Auch zukünftig sei dies keine Option.
«Er war nur ein Vorbeter», sagt sein Anwalt. Die Verantwortlichen der Moschee hätten ihn darum gebeten. Ihn dazu ermuntert. Ja, ihn unter Druck gesetzt. «Weil er arabisch lesen und schreiben kann, den Koran gut kennt. Weil er eine angenehme Stimme hat.»
Der Äthiopier selber spielt seine Arabisch-Kenntnisse vor der Richterin herunter: Er verstehe nur 80 Prozent des Geschriebenen auf Arabisch. Er könne zwar auswendig aus dem Koran zitieren, die Bedeutung des Inhalts kenne er aber oft nicht. Auch von der besagten Predigt hätte er selber nur die Hälfte verstanden. Diese hat er aus zwei Predigten zusammengestellt, die er im Internet fand.
Die Staatsanwaltschaft ist anderer Meinung und begründet dies auf einem Gutachten, das sich mit der umstrittenen Predigt des Beschuldigten auseinandergesetzt hat. Der Experte bescheinigt dem Äthiopier eindrückliche Fähigkeiten in der klassischen arabischen Sprache. «Ich wünschte meine Studierenden wären so gut», zitierte die Staatsanwältin dessen Lob an den Beschuldigten.
Seine guten Arabisch-Kenntnisse konnte er nicht viele Male als Vorbeter unter Beweis stellen. An einigen Morgen- und Abendgebeten, an zwei Freitagsgebeten. Nach vier Wochen im Amt als Aushilfs-Prediger der An'Nur Moschee verhaftete ihn die Polizei.
Das war am 2. November 2016, vor mehr als einem Jahr. Seither sitzt er in Untersuchungshaft. Es gehe ihm nicht so gut, antwortete der junge Mann auf die entsprechende Frage der Richterin. «Ich bin im Gefängnis, ich kann nicht telefonieren und ich habe Schmerzen. Ich bin krank.»
Er leidet unter einer Lymphknoten-Tuberkulose. Darum stand auch der Gerichtstermin vom Donnerstag lange auf der Kippe. Letztlich gaben die Ärzte grünes Licht.
Schlechte Nachrichten gab es für den Äthiopier im Gerichtssaal. Die Richterin sieht zwar ein, dass er nur aus Not als Prediger eingesprungen ist und zu keinem Zeitpunkt die Funktion eines vollwertigen Imams inne hatte. Auch gebe es keine Anhaltspunkte, dass der Beschuldigte gezielt nach Winterthur geschickt worden sei, um dort Hasspredigen zu halten.
Doch sein Gewaltaufruf sei gefährlich, hielt sie fest, besonders in einer Moschee wie der An'Nur, die solange es sie gab, als radikal galt. Was auch ihm bewusst gewesen sein muss, sagte die Richterin. «Solche Aufrufe können in einem radikalen Umfeld, wie der An'Nur Moschee, auf offene Ohren stossen.»
Zwar hätte der Beschuldige nur bei der Einleitung der Predigt eigene Worte gewählt und ansonsten zitiert. Doch da er die Textpassagen nicht in die heutige Zeit eingeordnet und relativiert hätte, hätten die Moscheebesucher davon ausgehen müssen, dass dies auch seine persönliche Meinung ist.
Das Bezirksgericht Winterthur verurteilte den Äthiopier zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monate. Zudem wird er für 10 Jahre des Landes verwiesen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Bis dahin gilt die Unschuldsvermutung.
Da der Äthiopier bereits über zwei Drittel der Strafe abgesessen hat, wird er aus der Sicherheitshaft entlassen. Aber nicht in die Freiheit, sondern in die Obhut des Migrationsamtes.