Sie stammen aus Kiew. Sind Sie seit Kriegsbeginn wieder dort gewesen?
Lisa Yasko: Leider nicht. In habe die Stadt in der ersten Kriegswoche verlassen. Seither habe ich verschiedene Orte in der Ukraine besucht, aber nicht meine Heimatstadt. Es ist nicht sicher, man sollte es nicht riskieren.
Wie würden Sie die Stimmung in der Ukraine nach zehn Wochen Krieg beschreiben?
Wir kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung. Gleichzeitig sind wir sehr geeint. Die Mehrheit glaubt, dass wir gewinnen und die Welt verändern können. Aber die Zahl der Opfer steigt ständig. Ich habe erst gestern erfahren, dass ein Journalist getötet wurde. Und ich habe mit einer Kollegin getextet, deren Ehemann in Tschernihiw ums Leben kam. Sie hatten zwei Kinder. Das ist unglaublich hart, so viele Familien sind betroffen.
Es gibt Berichte, dass die Vorräte an Treibstoff und anderen Dingen ausgehen.
Das stimmt leider. Weil die Russen die Eisenbahnlinien bombardieren, sind immer mehr Leute auf das Auto angewiesen. Aber es gibt kaum Benzin. Das war schon in der ersten Kriegswoche der Fall. Damals bin ich mit dem Auto aus Kiew geflüchtet. Ich war drei Tage unterwegs von Ort zu Ort, und es war fast unmöglich, Benzin zu bekommen.
Trotzdem ist der Kampfgeist ungebrochen?
Es geht um unsere Existenz. Wir können den Angreifern nicht vergeben. Ein Kompromiss mit jemandem, der einen Teil des Landes besetzt und Menschen tötet, ist keine Option.
Sie nehmen in St.Gallen an einem Podium zur Nato teil. Erhält die Ukraine genug Unterstützung von der Nato und vom Westen?
Wir hatten mehr erwartet und dies auch nicht verheimlicht. Aber wir verstehen, dass die Nato auf eine solche Bedrohung nicht vorbereitet war. Jetzt ist sie es mehr denn je. Es herrscht Einigkeit unter den Nato-Staaten, soweit ich das beurteilen kann. Schweden und andere Länder dürften beitreten. Damit verändert sich die internationale Sicherheitsordnung. Das ist nicht nur für die Ukraine wichtig, sondern für ganz Europa.
Der Westen schickt immer mehr Waffen in die Ukraine. Russland behauptet jedoch, viele davon zerstört zu haben. Können Sie etwas dazu sagen?
Wir bekommen jeden Tag Waffen. Aber es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn wir brauchen immer mehr. Ich hatte Kontakt mit militärischen Einheiten im Norden der Ukraine. Sie sagten mir, sie bräuchten Schutzwesten. Unsere Partner erklärten, sie würden sie liefern, aber es dauere vielleicht eine Woche. Der Präsident erhält ähnliche Signale in seinen Gesprächen mit ausländischen Partnern. Aber wir haben diese Zeit nicht.
Die ukrainische Armee hat dennoch beachtliche Erfolge erzielt und die Russen etwa aus Kiew vertrieben.
Ich glaube sehr stark an die ukrainische Armee. Zu Beginn des Krieges gab es grosse Zweifel, dass wir länger als zwei, drei oder vier Tage durchhalten würden. Wir haben den Beweis erbracht und uns gegen eine der besten Armeen der Welt behauptet. Allerdings haben sich die Russen verrechnet. Man fragt sich, was Putin sich gedacht hat. Mit gesundem Menschenverstand hat das nichts zu tun. Seine Ideen und Narrative waren weit entfernt von der Realität. Das ist sehr hilfreich für die Ukraine, die Wahrheit ist auf unserer Seite.
Viele Russen aber glauben der Propaganda.
Man müsste wissenschaftlich untersuchen, wie es möglich ist, dass die Menschen solchen Lügen glauben. Hat man sie einer Gehirnwäsche unterzogen? Gibt es nicht wenigstens ansatzweise ein kritisches Denken? Die Russen müssten sich fragen, warum ihre Soldaten in der Ukraine nicht als Befreier begrüsst wurden. Aber die Propaganda durch die staatlichen Medien scheint noch ziemlich gut zu funktionieren.
Sie haben in Moskau studiert und kennen das Land. Was ist Ihre Erklärung?
Ich war dort in einer schwierigen Zeit, während dem Euromaidan 2014. In Gesprächen mit mir und ukrainischen Kollegen hiess es immer, wir seien Brüder und Schwestern, eine Nation. Über andere Themen wurde gar nicht geredet. Das war schwierig. Ich habe schon damals festgestellt, dass das Umfeld sehr ungesund war. Das gilt auch für junge Menschen.
Wie äusserte sich das?
Wir Ukrainer wurden von der Universität sehr schlecht behandelt. Ich war damals schon im Masterstudium, wurde aber in Kurse auf Bachelor-Niveau gesteckt. Die Einstellung dahinter war, dass wir als Ukrainer ohnehin keine Ahnung von Politikwissenschaft hätten. Dies hörte sich selbst von Studierenden, die jünger waren als ich. Sie sind unter Putin aufgewachsen und zur Schule gegangen, was ihre Denkweise beeinflusst hat. Das war sehr interessant, aber auch beängstigend.
Heute reisen Sie durch ganz Europa und werben um Unterstützung. Was erwarten Sie von den Europäern?
Europa muss bessere Werkzeuge zu seinem Schutz erarbeiten. Das betrifft verschiedene Formen der Zusammenarbeit in Bereichen wie Sicherheit und Wirtschaft. Der Status Quo funktioniert nicht mehr. Einige europäische Länder spüren die Bedrohung durch Russland und helfen der Ukraine. Aber ich weiss nicht, ob alle verstanden haben, dass es vor allem bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit kein Business as usual mehr geben kann.
Was meinen Sie konkret?
Ich hatte kürzlich ein nicht sehr angenehmes Gespräch mit Vertretern Österreichs. Es ging um einen Ölboykott. Ich verstehe, dass er sich nicht von einem Tag auf den anderen umsetzen lässt, aber man kann nicht mit einem Aggressor Handel treiben. Man wird kurzfristig Verluste erleiden, aber es muss etwas geschehen, ob andere Verträge oder mehr grüne Energie. Man kann nicht auf ein Ende Putins und ein demokratisches Russland hoffen. Dafür gibt es keine Kandidaten und keine Perspektive. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man stehen will.
Hat sich das westliche Europa naiv verhalten?
Sehr naiv, aber ich denke, das ändert sich. Ich bin ziemlich überrascht, dass die Schweiz sich auf die Seite der Ukraine geschlagen hat. Trotz der Neutralität hat sie Stellung bezogen. Das bezieht sich nicht auf das Militärische, aber auf Menschenrechte und Prinzipien. Es ist eine starke Position, der sich andere Länder anschliessen sollten.
Ich habe gehört, Sie hätten Bundespräsident Ignazio Cassis bei seinem Auftritt in St.Gallen direkt konfrontiert.
Mir hat seine Rede gefallen. Er hat gesagt, dass man dem Bösen gegenüber nicht gleichgültig sein könne, sondern Haltung zeigen müsse. Zuvor hatte ich Gespräche mit Vertretern der Schweiz und war nicht erfreut, dass sie keine Waffen liefern will, wegen der Neutralität. Die Sanktionen aber sind ein starkes Zeichen. Ich denke, dass die Schweiz viel Geld verlieren wird. Trotzdem hat sie diesen Schritt gemacht. Ich bewundere das.
Andere Länder haben sich auch bewegt, vor allem Deutschland, das sehr abhängig ist von russischem Gas und Öl und der Ukraine jetzt Panzer liefert.
Das ist ein Fortschritt, aber es hat gedauert. Für das pragmatische Deutschland ist es schwierig, solche Entscheidungen zu treffen, doch es geschieht. Es ist sehr wichtig, dass Deutschland als Führungsmacht in Europa sich in unsere Richtung bewegt. Die damit verbundene Diskussion aber ist oft schädlich für die Ukraine. Wir verlieren Zeit, die wir nicht haben. Immerhin spüre ich, dass die Gesellschaft uns gegenüber positiv eingestellt ist.
Es gibt in Deutschland aber eine pazifistische Strömung, die findet, der Krieg müsse unbedingt beendet werden.
Aber nicht zum Preis territorialer Verluste. Ich hatte schon vor Kriegsbeginn Gespräche mit europäischen Politikern. Sie sagten mir, wir könnten doch akzeptieren, dass der Donbass unabhängig oder ein Teil Russlands werde, dann gebe es keinen Krieg. Ich war schockiert, und jetzt ist es noch schockierender. Wir kämpfen für unser Land. Das ist unser Recht. Russland hat uns angegriffen, nicht umgekehrt. Aus Sicht der Schweiz, die seit langer Zeit nichts Derartiges erlebt hat, mag das gehen. Aber für uns, mit diesem Nachbarn? Wir müssen uns vor künftigen Angriffen schützen. Das geht nur, wenn wir unser Land verteidigen.
Was sagen Sie zu den Spekulationen, dass Putin den Donbass und weite Teile der Südukraine annektieren will?
Das will er, mindestens. Wird es ihm gelingen? Ich bezweifle es, aber es wird hart für uns. Vor dem Krieg hatte ich in einigen Grenzregionen Sicherheitskonferenzen veranstaltet, in Mariupol, Cherson, Tschernihiw und Transkarpatien. Es ist unglaublich schmerzhaft, dass dort alles zerstört oder besetzt wurde, viele Menschen flüchten mussten oder nicht mehr am Leben sind. Gerade Mariupol ist eine spezielle Stadt.
Inwiefern?
Vor dem Krieg war es eine lebendige Stadt mit einer sehr guten Führung, einem aktiven Bürgermeister und einer Zivilgesellschaft, die viel gemacht hat, etwa für Flüchtlinge aus dem Donbass. Vor allem die jungen Menschen haben mich beeindruckt mit ihrem Engagement, ihrer Begeisterung und ihrer Zuversicht. Und jetzt (seufzt)?
Wenn sich der Krieg hinzieht, könnte der Druck auf die Ukraine steigen, selbst einen «schlechten» Frieden zu akzeptieren.
Müssen wir das entscheiden, oder nicht eher Russland? Präsident Selenskyj hat gesagt, dass er jederzeit bereit ist, Putin zu treffen. Aber Putin will nicht. Er ist nicht bereit, den Krieg zu beenden. Er braucht irgendeinen Erfolg für den «Tag des Sieges» am 9. Mai. Davor habe ich persönlich grosse Angst, auch physisch. Ich fühle mich schrecklich. Denken wir an nur Azovstal, und wie es den Menschen dort ergeht. Das ist ein Genozid.
Er ist das bislang größte Arxxxloch des 21. Jahrhunderts!
Als wir während der Pandemie ganz direkt betroffen waren, konnten wir innert weniger Wochen unsere ganze Wirtschaft herunterfahren.
Die Ukrainer sind uns dieses Opfer offensichtlich nicht wert. Gerade die Schweiz und Deutschland versagen einmal mehr kläglich, wenn es darum geht, den Faschismus einzudämmen.
Deutlicher könnte man es nicht machen, dass die Vermögen der eigenen Reichen mehr wert sind als das Leben der Ukrainer.
Man kann sich nur schämen.
Steter Tropfen höhlt den Stein.
So zummindest versuche ich mir das zu erklären. Das ist ja nicht erst seit gestern so sondern schon seit Putin an der Macht ist. Er baute die Propagandamaschine kontinuierlich aus. Und er weiss genau, wie man Menschen manipuliert. Viele kleine kleine Schritte... immer nur ein kleines bisschen dann gibts kein Geschrei.
Wie der Frosch der nicht merkt, dass das Wasser um ihn herum immer heisser wird, wenn das ganz langsam passiert.