Mit 35 Jahren verliert Martin W.s* Frau den Kampf gegen den Krebs. Der Vater von drei minderjährigen Töchtern steht plötzlich alleine da. «Es zieht dir den Boden unter den Füssen weg», beschreibt Martin den erlebten Schicksalsschlag. «Dieser Schmerz lässt sich kaum in Worte fassen.»
Wo vorher zwei Elternteile waren, bleibt nur einer. Martin muss sich schnell entscheiden. Er reduziert von 100 auf 50 Prozent. «Meine Kinder litten unter Verlustängsten, ich konnte es ihnen nicht antun auch noch den zweiten Elternteil grösstenteils zu verlieren.» Mit Müh und Not schaffte es der Mittvierziger, die Kinderbetreuung zu organisieren – mit Unterstützung aus dem Umfeld und einer Nanny.
Finanziell wird es knapp. Zwar erhält Martin eine Witwerrente, doch weil seine Frau sich vor ihrem Tod um die Kinder gekümmert hat, fällt diese gering aus. «Der halbe Lohn und die Rente reichten kaum aus, um durchzukommen», sagt er heute. Zudem droht ihm ein anderes Szenario: «Durch das Engagement für meine Kinder könnte mir einst Altersarmut drohen.»
Mit der Pensenreduktion schrumpft seine Pensionskasse. Zudem erlischt sein Anrecht auf eine Witwerrente, wenn seine drei Töchter volljährig sind. Bei Witwen mit Kindern ist das anders. Stirbt der Partner, haben sie lebenslang ein Anrecht auf eine Rente – auch über die Volljährigkeit der Kinder hinaus.
Wegen dieser ungleichen Behandlung wurde die Schweiz vergangene Woche vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt. Ein Mann aus dem Kanton Appenzell-Ausserrhoden machte die Diskriminierung geltend. Auch er verlor seine Partnerin und kümmerte sich danach alleine um die minderjährigen Kinder. Mit 57, als seine Kinder volljährig wurden, erhielt er keine Witwerrente mehr.
Die Richterinnen und Richter in Strassburg stellten fest, dass die Schweiz mit dieser Handhabung gegen das Diskriminierungsverbot verstösst. Der EGMR-Entscheid schlug schweizweit Wellen. Zwar wird schon länger über eine Reform der AHV diskutiert, eine Änderung der Witwer- und Witwenrente ist darin jedoch nicht vorgesehen.
Auch Martin W. empfindet die unterschiedliche gesetzlichen Handhabung als diskriminierend. Er warnt aber davor, die Witwenrente nach unten anzupassen, so dass auch Frauen nur noch bis die Kinder volljährig sind, eine Rente erhalten.
«Der Tod des Partners ist für einen selbst und für die Kinder unglaublich schwer. Kombiniert mit finanziellen Engpässen wird die Last noch grösser.» Es sei noch immer so, dass sich ein Paar häufig für das traditionelle Familienmodell entscheide. «Würde den Frauen dann die Witwenrente gekürzt, müssten sie von einer minimalen Pensionskasse leben und hätten im Alter kaum Geld», so Martin W.
Auch der Verein Aurora schlägt Alarm. Die Kontaktstelle für Verwitwete mit minderjährigen Kindern warnt ebenfalls davor, die Witwenrente mit dem Argument der «gebeutelten AHV» in einer Hauruck-Aktion nach unten anzupassen. Dass also verwitwete Frauen ebenfalls keine Rente mehr erhalten, wenn ihre Kinder volljährig sind.
«Bei den meisten jungen Familien sind die Frauen noch immer nur mit einem kleinen Pensum von 20 bis 40 Prozent in ihrem Beruf tätig. Damit haben sie eine deutlich tiefere Pensionkassenrente», so Christine Perolini, Medienverantwortliche des Vereins Aurora. «Eine gekürzte Witwenrente hätte in vielen Fällen gravierende Folgen.» Damit würde man die Witwen noch mehr in Bedrängnis bringen.
Martin W. sagt heute, er habe Glück gehabt. «Mein Arbeitgeber war so kulant und ermöglichte es mir, Teilzeit zu arbeiten. Und ich konnte auf grosse Unterstützung aus meinem Umfeld zählen.» Doch noch immer gebe es Fehler im System. «Es gibt kaum Teilzeitstellen für Männer», sagt er.
Sechs Jahre ist es her, seit Martin W.s Frau gestorben ist. Unterdessen hat er ein zweites Mal geheiratet. «Wir haben als Familie in ein neues Leben gefunden und sind wieder glücklich.» Das sei ein langer und harter Weg gewesen. Am schlimmsten seien Witwer und Witwen mit kleinen Kindern dran. «Ich hoffe einfach sehr, dass die Politik nicht denkt, bei diesen Fällen könne man sparen. Das wäre ein Graus.»
*Name der Redaktion bekannt
Und da gehts dann nicht um ein paar hundert Franken.