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IV-Bezüger verdeckt zu überwachen ist illegal, sagt das Bundesgericht

IV-Bezüger verdeckt zu überwachen ist illegal, sagt das Bundesgericht

02.08.2017, 12:0002.08.2017, 14:54
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Le batiment du Tribunal Federal, photographie ce mercredi 28 octobre 2015, a Lausanne lors du Recours du Conseil central islamique suisse (CCIS) apres l'interdiction de tenir la conference annuel ...
Das Bundesgericht sieht keine Rechtsgrundlage für das Überwachen von IV-Bezügern.Bild: KEYSTONE

Für die verdeckte Überwachung von Bezügern einer Invalidenrente fehlt es an einer ausreichend klaren und detaillierten gesetzlichen Grundlage. Dies hat das Bundesgericht entschieden. Es wirft damit seine bisherige Rechtsprechung über den Haufen.

Die Bundesrichter lehnen sich an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Zusammenhang mit der Observation im Bereich der Unfallversicherung an. Im Oktober vergangenen Jahres hatte der EGMR festgehalten, dass die gesetzliche Regelung nicht klar genug sei und somit keine Garantie gegen Missbrauch bestehe.

Das Bundesgericht schreibt nun in einem am Mittwoch publizierten Urteil, dass sich die Rechtslage bei der Invalidenversicherung nicht anders präsentiere als im Bereich der Unfallversicherung.

Im konkreten Fall aus dem Kanton Zug kommt das Gericht aber trotzdem zum Schluss, dass die widerrechtlich erlangten Fotos und Videoaufnahmen bei der Bemessung der Rente verwendet werden dürfen. Dies ergebe sich aus der Abwägung der privaten Interessen des Betroffenen und den öffentlichen Interessen.

Begründeter Verdacht

Der IV-Bezüger war ausschliesslich im öffentlichen Raum überwacht worden, und niemand hatte ihn bei seinen Handlungen beeinflusst. Vor der Observation bestand gemäss Urteil ein ausgewiesener Zweifel, ob der Mann zurecht eine Rente erhält. Insgesamt war er in einem Zeitraum von zwei Wochen vier Tage lang beobachtet worden. Dies geschah jeweils zwischen fünf und neun Stunden.

Das Bundesgericht folgert daraus, dass der Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen relativ bescheiden sei. Dieser sah sein Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK), beziehungsweise den in der Bundesverfassung festgeschriebenen Schutz der Privatsphäre verletzt. Unter dem Strich überwiegt gemäss Gericht das «erhebliche und gewichtige Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs».

Für den Entscheid über eine zukünftige Rente durfte sich die Vorinstanz gemäss Bundesgericht auf die vorhandenen ärztlichen Befunde und die Ergebnisse aus der Überwachung stützen. Sie kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch mehr hat auf eine Rente. Das Bundesgericht hat dies bestätigt.

Kein Beweis aus privaten Räumen

Die Bundesrichter halten in ihrem Leiturteil über den konkreten Fall hinaus fest, dass im Sozialversicherungsrecht insoweit von einem absoluten Verwertungsverbot von Beweisen auszugehen sei, wenn diese in nicht öffentlich frei einsehbaren Räumen zusammengetragen wurden.

Weiter weisen sie darauf hin, dass eine observierte Person die Möglichkeit haben muss, die Echtheit des rechtswidrig erlangten Beweises und dessen Verwendung anzufechten. Auch spiele die Beweisqualität eine Rolle und die Frage, ob ein Beweis geeignet ist, um die Aussagen eines Betroffenen zu bezweifeln.

Gemäss bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichts reichten die gesetzlichen Leitplanken des Sozialversicherungsrecht, um eine regelmässige Observation eines Versicherten zuzulassen. Dies allerdings nur, solange die Überwachung im öffentlichen Raum statt fand. (Urteil 9C_806/2016 vom 14.07.2017) (sda)

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62 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Mrs. Bonsai
02.08.2017 14:44registriert Februar 2014
Das Bundesgericht führt aus, dass eine verdeckte Ermittlung nicht zulässig sei. Sind aber solche nicht zulässig erlangten Beweismittel vorhanden, seien diese in Abwägung der Interessen verwertbar.

Bei dieser Ausgangslage kann ja trotzdem überwacht werden, denn die Beweise sind trotzdem verwertbar. Die Rüge der Verletzung ist verkraftbar. Vorallem wenn man bedenkt, dass bald die gesetzliche Grundlage geschaffen wird.
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Thinktank
02.08.2017 13:20registriert Oktober 2016
Wieso darf man gegen Autofahrer verdeckt ermitteln, indem man hinter jedem Mistkübel einen Radar aufstellt, aber jene, die Leistungen vom Staat beziehen nicht?
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Matthias Studer
02.08.2017 18:54registriert Februar 2014
Der Staat hätte mehr an Steuerdetektive investiert. Da würde mehr Geld in die Kasse fliesen.
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