Was haben ein Wimbledon-Sieger, Charles de Gaulles ältere Schwester, zwei ehemalige französische Premierminister, ein SS-Hauptsturmführer sowie einige Wehrmachtssoldaten und GIs der US-Army gemeinsam? Richtig: Sie schlossen sich drei Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zusammen, um die 17. SS-Panzergrenadier-Division «Götz von Berlichingen» an der Einnahme des Schlosses Itter zu hindern.
Das im 19. Jahrhundert wiedererrichtete Schloss Itter im Tirol wurde seit 1943 als Aussenlager des Konzentrationslagers Dachau verwendet. Aussergewöhnlich an diesem Ort waren nicht nur die lockeren Haftbedingungen, die keineswegs jenen im KZ entsprachen, sondern auch die Zusammensetzung der Häftlinge. Auf Schloss Itter hielt die SS prominente Franzosen fest, die von osteuropäischen Zwangsarbeitern bedient wurden. Zu den Luxus-Häftlingen zählten Paul Reynaud und Édouard Daladier, vormalige Premierminister Frankreichs, die Generäle Maurice Gamelin und Maxime Weygand, der Politiker und Tennisstar Jean Borotra und Marie-Agnès Cailliau, die nur hier interniert war, weil sie De Gaulles Schwester war.
Was wie der Plot aus einem Quentin-Tarantino-Epos anmutet, ereignete sich am 5. Mai 1945. In diesen letzten Kriegstagen herrschten merkwürdige, chaotische Verhältnisse. Hitler hatte sich am 30. April, also nur ein paar Tage vorher, das Leben genommen. Trotz geklärter Nachfolge und Dauerpropaganda über die Volksempfänger wusste jeder mit ein bisschen Verstand, dass der Krieg entschieden war. Wer nicht komplett in der Naziideologie verloren war, kümmerte sich nun nicht mehr um Befehle. Dennoch gab es immer noch fanatisierte SS-Truppen und vereinzelte Wehrmachtseinheiten, die bis zum Letzten kämpfen wollten.
Nachdem sich am 2. Mai der letzte reguläre Kommandant von Dachau, Eduard Weiter, auf Schloss Itter erschossen hatte, war SS-Hauptsturmführer Sebastian Wimmer, der den Befehl über das Schloss hatte, auf sich allein gestellt. Die Franzosen, die wussten, dass die SS oft in den letzten Tagen noch Gefangene exekutierte, sprachen mit ihm und machten ihm klar, dass er sich bald für ihr Schicksal zu verantworten haben würde. Am 4. Mai räumte Wimmer mit seinen verbliebenen SS-Wachmännern die Posten und floh. Zurück blieb einzig der verwundete SS-Offizier Kurt-Siegfried Schrader, der mittlerweile desillusioniert war und sich mit der Niederlage abgefunden hatte.
Schon am Tag zuvor hatte der kroatische Häftling Zvonimir Čučković das Schloss verlassen. Das einstige Mitglied des jugoslawischen kommunistischen Widerstands musste oft Botengänge für Kommandant Wimmer machen, so auch an diesem Tag. Doch diesmal hatte Čučković eine andere, geheime Mission. In seiner Tasche befand sich ein in englischer Sprache verfasster Brief, in dem die Häftlinge ihre Situation beschrieben und um Hilfe baten. Čučković vermied das von SS-Truppen besetzte, fünf Kilometer entfernte Wörgl und begab sich ins weiter entfernte Innsbruck, wo er amerikanische Soldaten über die Gefangenen informierte.
Inzwischen hatten sich die Häftlinge auf Schloss Itter mit den zurückgelassenen Waffen der Wachmannschaft bewaffnet und zur Verteidigung des Schlosses eingerichtet. An eine Flucht war noch nicht zu denken, denn noch immer gab es fanatische SS-Verbände in der Gegend, wie eben in Wörgl. Eines war zudem klar: Allein würden die neuen Herren von Schloss Itter einem Angriff dieser Truppen nicht standhalten.
So machte sich der tschechische Häftling Andreas Krobot, der Koch von Schloss Itter, auf den Weg nach Wörgl, um den dortigen Widerstand um Beistand zu bitten. Auch Krobot trug einen Brief mit sich. Angehörige des österreichischen Widerstandes brachten ihn zum Wehrmachtsmajor Josef Gangl. Dieser befehligte Reste einer Wehrmachtseinheit, die ebenfalls der Realität ins Auge geblickt und die Niederlage akzeptiert hatte. Gangl versorgte den lokalen Widerstand mit Waffen und Informationen. Viele Häuser in Wörgl waren bereits mit weissen Fahnen dekoriert. Laut einem Befehl Himmlers sollten alle männlichen Bewohner eines solchen Hauses exekutiert werden. Gangl und seine Gruppe von Wehrmachtssoldaten wollten dies verhindern.
Doch war es nicht sinnvoll, länger zu warten. Im nahegelegenen Kufstein traf das Grüppchen um Gangl auf eine Vorhut der US-Streitkräfte unter dem Kommando von Captain John C. Lee, genannt «Jack». Gangl wurde von den Amerikanern durchsucht und zeigte ihnen den Brief der Häftlinge von Schloss Itter. Ob man mit diesen Kräften das Schloss halten könne? Vierzehn von «Jack» Lee befehligte US-Soldaten, ein Panzer, ein Lastwagen mit Fahrer sowie Major Gangl mit seinen zehn Wehrmachtssoldaten machten sich auf, um den auf Schloss Itter ausharrenden Häftlingen beizustehen. Diese hofften darauf, SS-Offizier Schrader würde ihnen mit seinem Verhandlungsgeschick helfen, sollten die immer noch kämpfenden fanatischen SS-Verbände zuerst eintreffen.
Trotz den Versuchen einer SS-Einheit, das Grüppchen um Gangl und Lee aufzuhalten, erreichte es Schloss Itter zuerst. Die Soldaten bezogen Verteidigungsstellung, ein Panzer wurde am Haupttor des Schlosses aufgestellt.
Wird in vielen Witzen dem französischen Militär eine komplett weisse Flagge als Kriegsflagge angedichtet, so bewiesen die Franzosen in zivil jedoch jeden erdenklichen Mut. Anstelle der Anweisung und dem natürlichen Reflex, sich zu verstecken, Folge zu leisten, schlossen sich die Prominenten kurzerhand den Soldaten an. Zwei weitere Wehrmachtssoldaten und der jugendliche Widerstandskämpfer Hans Waltl machten den Verteidigungsring komplett. Die Wehrmachtssoldaten, die Lee «zahme Krauts» nannte, trugen eine Armbinde, damit sie nicht mit dem Feind verwechselt wurden.
Im Mittelalter reichte oft eine Handvoll Männer auf einer Burg aus, um gegen eine Übermacht zu bestehen. Das Geschehen von Schloss Itter machte diesen mittelalterlichen Berichten alle Ehre.
Am Morgen des 5. Mai stürmten ca. 150 bis 200 SS-Soldaten gegen das Schloss an. Sie hatten nicht nur einfache Gewehre dabei. Eine 8,8-cm-FlaK zerstörte den Panzer, der das Haupttor halten sollte. Man hatte die ersten Verletzten zu beklagen.
Eine tragische Ironie hielt das Schicksal für Major Gangl bereit, ohne den die Verteidigungsorganisation wohl unmöglich gewesen wäre. Beim Versuch, den unvorsichtigen Reynaud vor der Kugel eines Scharfschützen zu retten, wurde er selbst tödlich getroffen. Gangl blieb das einzige Todesopfer unter den Verteidigern.
Es war klar, dass das Schloss nun irgendwann fallen müsste. Wo blieb die Verstärkung? Jean Borotra, der sich als mehrmaliger Wimbledon-Sieger im Tennis den Titel «der springende Baske» verdient hatte, nahm nun das Heft in die Hand. Auch wenn er aufgrund seiner Tätigkeit als Sportminister im Vichy-Regime häufig kritisch gesehen wird, leistete er jetzt einen mutigen Beitrag, um die Verteidiger zu retten. Er meldete sich freiwillig für einen Botengang durch die SS-Linien hindurch. Wie durch ein Wunder gelang es ihm.
Gegen 16 Uhr erreichten die von Čučković in Innsbruck alarmierten US-Truppen das Schloss und besiegten die seit dem Morgen kämpfenden SS-Mannschaften.
So wurde die «seltsamste Schlacht des Zweiten Weltkrieges» geschlagen. 100 SS-Soldaten gingen in Gefangenschaft, ein paar dutzend waren tot. Im Schutz des Schlosses wurden nur vier Verteidiger verwundet und Gangl als einziger getötet. Dass Gangl als Held des österreichischen Widerstands geehrt wurde, dürfte niemanden wundern.
Noch am selben Abend durften die befreiten Franzosen ihre Heimreise antreten. Sie erreichten Paris am 10. Mai 1945.
Nicht eines ihrer besten, aber immernoch gut.