Die Libyen-Affäre, die im Sommer 2008 Fahrt aufnahm, beschäftigte die Schweiz während mehr als zwei Jahren. Muammar Gaddafi, der greise Diktator des Maghreb-Staates, wollte sich für die Verhaftung seines Sohnes Hannibal Gaddafi in Genf im Juli 2008 rächen. Die beiden Schweizer Max Göldi und Rachid Hamdani, die damals in Libyen beruflich tätig waren, gerieten in das «kafkaeske» libysche Justizsystem.
695 Tage wurde Max Göldi unschuldig in Libyen festgehalten – offiziell wegen Visa- und Steuervergehen, tatsächlich aber hielt das libysche Regime um Muammar Gaddafi Göldi und den tunesisch-schweizerischen Doppelbürger Rachid Hamdani als Geiseln im Land, um der Schweiz Zugeständnisse abzupressen.
Göldi flüchtete kurz nach Beginn der Krise in die Schweizer Botschaft, seine Frau konnte noch ausreisen, er selber wurde entführt und in mehreren Schauprozessen verurteilt. Der Aargauer verbrachte mehr als fünf Monate in mehreren Gefängnissen in Tripolis. Die Libyen-Affäre entwickelte sich zum diplomatischen Fiasko für die Schweiz und beschädigte die Reputation als Verhandlungsstaat nachhaltig. Auf dem Höhepunkt forderte Gaddafi an der UNO-Generalversammlung, die Schweiz zu zerschlagen und auf die Nachbarstaaten zu verteilen.
Erst im Juni 2010 gelang es dank internationaler Vermittlung Max Göldi aus dem Land zu holen. Göldi verschwand nach der Rückkehr in die Schweiz aus der Öffentlichkeit. Zehn Jahre danach legt er ein mehr als 600 Seiten schweres Buch über die damaligen Ereignisse vor. «Gaddafis Rache,» so der Titel, wird Schlagzeilen machen, ist sich Göldi sicher.
>> Die ausführliche Chronik zur Libyen-Affäre findest du am Ende des Interviews.
Herr Göldi, acht Jahre nachdem Sie aus der Hand des libyschen Diktators Muammar Gaddafi befreit wurden, legen Sie ein Buch vor. Warum jetzt?
Max Göldi: Ich hatte nach der Pensionierung Zeit mein Tagebuch zu sichten und da entstand der Wunsch meine Sicht der Dinge öffentlich zu machen. Nicht weil ich das Rampenlicht suche, es ist mir wohler im Hintergrund, aber für mich ist dieses Buch ein weiterer Schritt der Verarbeitung.
Die Libyen-Affäre war die grösste diplomatische Krise seit den nachrichtenlosen Vermögen, die Medien berichteten während zwei Jahren praktisch nonstop. Wurde nicht alles dazu gesagt und geschrieben?
Das Meiste, was damals erzählt wurde, war halbwahr, vieles war sogar ganz falsch. Eine zusammenhängende Erzählung von A bis Z gab es aber nicht – bis jetzt. Natürlich bin ich mir bewusst, dass es nur meine Sicht der Dinge ist.
Die andere Sicht, das wäre dann wohl jene des EDA, der Genfer Behörden und der damaligen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, die die Verhandlungen leitete. Sie sparen in Ihrem Buch nicht mit Kritik an Vertretern und Akteuren der offiziellen Schweiz.
Ja, aus meiner Sicht lief vieles falsch ab damals. Aber es ist wie im Film «Rashomon» ...
... das Meisterwerk des japanischen Filmregisseurs Akira Kurosawa ...
... in dem ein Mord aus der Perspektive von vier verschiedenen Personen erzählt wird: einem Banditen, einer Frau, einem Samurai und einem unbeteiligten Zeugen. Jeder beansprucht für sich die Wahrheit. So war es auch in der Libyen-Affäre: Wir alle, die Leute im EDA und im VBS, die Medien, ich selber, hatten eine unterschiedliche Perspektive auf diese zwei Jahre und eine unterschiedliche Wahrheit.
Wie hätte sich die offizielle Schweiz denn Ihrer Meinung nach verhalten sollten?
Es wurden viele Fehler gemacht, vor allem liess man sich für vieles zu lange Zeit. Es hätte möglichst schnell die Entschuldigung des Bundespräsidenten gebraucht, dann wäre uns vieles erspart geblieben. Pascal Couchepin hat seine Chance leider verpasst, umso lobenswerter, dass sein Nachfolger Hans-Rudolf Merz diese Aufgabe dann wahrnahm. Auch wollte die Schweiz lange alles im Alleingang machen und hat viel zu spät die Unterstützung europäischer Partner gesucht. Und der Leiter der ersten Taskforce war eine Fehlbesetzung, ein Mann, der weder menschlich noch fachlich geeignet war für diese Position.
Neben den diplomatischen Kanälen wurde auch im Geheimen an Ihrer und Rachid Hamdanis Befreiung gearbeitet. Die sogenannten Exfiltrationspläne, also Vorkehrungen, um Sie ausser Landes zu schaffen, waren weit fortgeschritten.
Ja, es gab mehrere Szenarien für unsere Befreiung. Eines davon war, im Kofferraum des Schweizer Botschafterautos über die Grenze nach Tunesien gebracht zu werden. Die Idee wurde aber im letzten Moment verworfen, man wollte wohl einen Diplomaten nicht so exponieren.
Und dann gab es den Jetski-Plan.
Den habe ich persönlich favorisiert. Ich sollte unbemerkt aus dem Botschaftsgelände gebracht werden, bis an den Strand. Dort hätte ich im Schutz der Nacht einen Jetski bestiegen und wäre bis zur Zwölf-Meilen-Grenze gefahren, wo ein Boot mich aufgefischt hätte. Das waren Pläne wie aus einem Agententhriller.
Ihr Buch heisst «Gaddafis Rache», Sie selber waren das Opfer dieser Rache, ein Spielball des Gaddafi-Clans. Empfinden Sie Hass gegenüber Muammar Gaddafi?
Es war eine grauenhafte Familie, die die Libyer terrorisiert und das Land ausgebeutet hatte. Ein Diktatoren-Clan, der sich alles leisten konnte. Aber Hass empfinde ich nicht, auch wenn er mir zwei Jahre meines Lebens gestohlen hat. Und seine Tötung während des Arabischen Frühlings 2011 hat mich schockiert. Es wäre wichtig und richtig gewesen, wenn er vor ein Gericht gestellt und verurteilt worden wäre.
Im Buch beschreiben Sie, wie Sie während Ihrer Gefangenschaft in der Zelle Schüsse hörten. Offenbar ein Erschiessungskommando. Hatten Sie nie Angst um Ihr Leben?
Natürlich denkt man in so einem Fall: «Hoffentlich machen die jetzt nicht den Fehler und nehmen den Falschen aus der Zelle mit.» Das war ja nicht ganz auszuschliessen, in einem Land, das
von der Willkür regiert wurde. Wenn man realisiert, dass in unmittelbarer Nähe Leute getötet werden ... das ist happig. Aber ich wusste, dass ich in einer privilegierten Situation war. Die Wärter behandelten mich anders als meine Mitgefangenen. Ich hatte im zweiten Gefängnis mehr Freiheiten, hatte eine eigene Zelle, konnte mir mehr herausnehmen.
Wie war das Verhältnis zu den Wachen in den Gefängnissen?
Ich sprach nur ein paar Brocken Arabisch und die Gefängniswärter sprachen kaum Englisch. Wir mussten uns mit Händen und Füssen verständigen. Zu den einen fand ich den Draht besser, zu anderen weniger. Aber die meisten haben mich mit Respekt behandelt. Spätestens als Hannibal Gaddafi mich im Gefängnis besuchte, wurde ihnen wohl bewusst, dass es sich bei mir um keinen normalen Insassen handelte.
Rund 17 Monate haben Sie auf der Schweizer Botschaft verbracht, anfänglich mit Ihrer Frau und mehreren Botschaftsmitarbeitern. Dann wurden die Schweizer Diplomaten abgezogen. Irgendwann waren Sie völlig alleine in der Botschaft. Wie haben Sie die Einsamkeit ertragen?
Ich mag die Einsamkeit, das hat mich nie gestört. Und ich hatte ja auch zu tun, ich war ja irgendwann offizieller Botschaftsmitarbeiter und durfte Botschaftsarbeiten erledigen, das Tor aufschliessen, Mails beantworten, Diplomatenpost aufgeben – normale Büroarbeit halt. Das war nicht schlimm, im Gegenteil, die unverhoffte Beschäftigung hat mir geholfen die Langeweile zu vertreiben.
Wie lief die Kommunikation mit dem EDA und Ihrer Familie ab?
Ich habe viele Briefe geschrieben, auf der Botschaft konnten wir auch telefonieren, waren damit aber sehr vorsichtig. Die Leitungen wurden abgehört, wir haben deshalb am Telefon nur Belanglosigkeiten ausgetauscht. Wichtige Informationen haben wir über die Chiffriermaschine auf der Botschaft versendet oder über den diplomatischen Kurierdienst. Während der Entführung, als Rachid Hamdani und ich 53 Tage in Einzelhaft gehalten wurden, war keine Kommunikation möglich. Die Briefe, die ich geschrieben habe, wurden nicht weitergeleitet.
Das Buch stützt sich weitgehend auf Ihre Tagebucheinträge in dieser Zeit. Haben Sie jeden Tag geschrieben?
Ja, ich habe praktisch jeden Tag Notizen gemacht, es war eine Routine, die mir geholfen hat, diese Zeit durchzustehen.
Sie haben auch im Gefängnis geschrieben.
Ja, meistens habe ich auf normalem Schreibpapier geschrieben, aber in der Haft musste ich auf Taschentücher schreiben. Diese Fetzen habe ich mir dann in ein in meiner Baseballkappe eingenähtes Geheimfach gesteckt. Ich hatte Angst, dass ich gefilzt werde. Aber die Wächter hatten absolut kein Interesse daran.
Warum nicht?
Das waren keine schreibenden Leute, man sah auch nie jemanden lesen im Gefängnis. Es war eher wie in «Tausendundeine Nacht», die Wachen und die Gefangenen erzählten sich lieber Geschichten. Die kamen gar nicht auf die Idee, dass da jemand etwas aufschreiben könnte. Die beschrifteten Papiernastücher besitze ich heute noch.
Was war das Schlimmste während dieser zwei Jahre?
Die Unfähigkeit, über mein Schicksal bestimmen zu können. Ich war wie ein Kleinkind, irgendwelche Leute entschieden, was mit mir geschieht, ich konnte nichts beeinflussen.
Es wirkt, als seien Sie extrem stoisch mit dieser Situation umgegangen, Sie haben etwas Ingenieurhaftes an sich, beschreiben technische Details unglaublich akkurat, lassen Emotionen aber weitgehend weg – ein Homo Faber.
Vielleicht habe ich das Glück, dass ich von Natur aus ein ausgeglichener Mensch bin, der nicht so emotional reagiert. Das macht das Buch wohl ein bisschen trocken, aber so bin ich halt. Es hat mir die Gefangenschaft aber sicherlich erleichtert. Im Gegensatz etwa zu Rachid Hamdani, der ein völlig anderer Typ ist. Rachid konnte an einem Tag voller Zuversicht sein und am nächsten Tag am Boden zerstört. Er hat dadurch wohl auch mehr gelitten als ich. Ich konnte mich an einem latenten Optimismus festhalten.
Trotzdem gab es auch Momente, in denen Ihnen der Kragen platzte?
Ja, natürlich gab es Phasen, in denen die Frustration gross war. Aber ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Ich bin ein positiv eingestellter Mensch, und war mir deshalb sicher, dass sich irgendwann eine Lösung ergeben wird. Die Frage war nur: Wann?
Sie schreiben, dass es wahrscheinlich für alle Beteiligten ein Davor und Danach gebe. Was hat sich bei Ihnen verändert?
Ich reise heute nicht mehr überallhin. Vor der Libyen-Geschichte hatte ich keine Berührungsängste, mittlerweile meide ich Länder, die kein ausgeprägtes Rechtssystem haben.
Wie ging es weiter, nachdem Sie am 14. Juni 2010 in der Schweiz gelandet waren?
Nach der Rückkehr hat das VBS ein Safe House organisiert, in dem ich mit meiner Familie für zwei Tage untergekommen bin. Am Tag der Ankunft wurde in Bern eine Pressekonferenz organisiert. Das erste und letzte Interview für absehbare Zeit. Nachher konnte ich mich ausklinken.
Haben Sie noch Kontakt mit den Schweizer Akteuren der Libyen-Affäre?
Ja, mit Rachid Hamdani und seiner Frau bin ich noch in Kontakt. Einmal im Jahr komme ich in die Schweiz und besuche die beiden. Auch mit einigen der Botschaftsmitarbeiter bin ich regelmässig in Kontakt. Da hat sich eine Freundschaft aufgebaut.
Die Presse kommt nicht gut weg in Ihrem Buch. Vor allem die «Tribune de Genève», die damals Fotos von der Verhaftung Hannibal Gaddafis publizierte, bekommt ihr Fett weg.
Die Aufgabe der Presse ist es, die Politiker und die Mächtigen zu kontrollieren. Aber in Libyen existierte das Prinzip der freien Presse nicht, die Vorstellung, dass Journalisten Machthaber kritisieren, war ungeheuerlich. Was die «Tribune» machte, war nicht nur unklug, sondern auch absolut unnötig. Der Fall war praktisch abgeschlossen, Merz hatte sich bei Gaddafi entschuldigt, und dann kam diese Zeitung mit den Bildern und zerschlug alle Hoffnungen. Die Veröffentlichung dieser Bilder hat uns alle zurückgeworfen und war wohl der Hauptgrund für die Entführung, die Schauprozesse und meine anschliessende viermonatige Haft.
Sie haben viel gelesen in der Haft. Stieg Larsson, Charles Dickens und – ausgerechnet – Hape Kerkelings Bestseller «Ich bin dann mal weg».
Ich habe das Buch von irgendjemandem geschenkt bekommen und konnte deshalb nicht wählerisch sein. Es war interessant, aber vielleicht tatsächlich nicht die optimale Gefängnislektüre (lacht).