Am 18. Mai fällt die Entscheidung. Das Stimmvolk entscheidet, ob die Schweizer Armee 22 neue schwedische Kampfjets für die Luftwaffe beschaffen darf. Mit dem 3,1 Milliarden Franken teuren Gripen soll eine Fähigkeit wieder aufgebaut werden, welche die Armee seit der Ausmusterung der Hunter-Jets in den 1990er-Jahren verloren hat: die Fähigkeit zum Bodenkampf. Das Verteidigungsdepartement von Bundesrat Ueli Maurer argumentiert denn auch mit dem Ernstfall. Die Luftwaffe sei das Dach der Armee. Und ohne Dach sei das Land in militärischen Extremsituationen schutzlos.
Der letzte Ernstfall ist allerdings bereits eine Weile her. Er datiert vom Zweiten Weltkrieg, als die Schweiz ihre Neutralität gegen Hitler-Deutschland und die Alliierten verteidigen wollte. Die Luftwaffe war damals der einzige Teil der Armee, der in Kampfhandlungen verwickelt wurde.
Obwohl die Armee schlecht gerüstet war – im Mai 1940 standen nur 90 moderne Messerschmitt-Jäger zur Verfügung –, lieferten die Schweizer den Deutschen über dem Jura anfänglich «einen mutigen Kampf», wie der Berner Militärhistoriker Stig Förster sagt. Immer wieder verletzten deutsche Bomber im Rahmen des Angriffskriegs gegen Frankreich im Sommer 1940 den schweizerischen Luftraum. Als am 1. Juni ein Geschwader der Legion Condor die Schweiz überflog, schossen die Schweizer Flieger deutsche Maschinen ab. Am 4. Juni wurden bei einer deutschen Strafexpedition auch Flugzeuge der Schweiz abgeschossen.
Insgesamt aber holte die Luftwaffe 11 deutsche Flugzeuge vom Himmel. Selber verlor sie nur deren 3. «Die Schweizer Flieger verhielten sich unerschrocken, flugtechnisch exzellent und aggressiv», sagt der Zürcher Historiker Jakob Tanner. Doch die Schweizer Erfolge verärgerten den siegestrunkenen Reichsführer Adolf Hitler und den unerbittlichen Hermann Göring, Chef der Deutschen Luftwaffe, höchstpersönlich. Am 6. Juni protestierte die Reichsregierung gegen die Angriffe und forderte den Bundesrat zu einer Entschuldigung auf. In der Folge schickte Hitler gar Saboteure in die Schweiz. Doch die Aktion gegen Militärflugplätze flog auf. Der Ärger über die widerborstigen Eidgenossen wuchs. Am 19. Juni folgte eine noch schärfere Protestnote aus Berlin. Man halte die Angriffe der Schweizer für einen «feindseligen Akt». Die Nazis drohten mit Vergeltungsmassnahmen.
Bern zitterte. Die strategische Lage der Schweiz war miserabel. Frankreich stand kurz vor dem Fall, das Land war von den Achsenmächten praktisch umzingelt. Der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, ordnete deshalb auf Geheiss des Bundesrats am 20. Juni an, die Flugzeuge ab sofort am Boden zu belassen. Die Deutschen sollten nicht provoziert und die eigenen Maschinen geschont werden. Guisan wusste: Bei einem effektiven deutschen Angriff wäre die Schweizer Luftwaffe innert zwei Tagen ausgeschaltet gewesen.
Nach innen wurde das, was nach 1945 als Manifestation des Widerstandswillens der Schweizer Flieger gelobt wurde, damals nicht kommuniziert, sondern verschwiegen. «Die Nachrichten über die Luftkämpfe waren streng zensuriert», sagt Tanner.
Dennoch war die brenzlige Situation für unser Land nicht ausgestanden. Der verärgerte Diktator befahl seinen Militärs am 23. Juni, Angriffspläne gegen die Schweiz auszuhecken. Die unter dem Codewort «Operation Tannenbaum» durchgespielten Szenarien sahen vor, das Land in wenigen Tagen vollständig zu besetzen. Hans Frölicher, der Schweizer Gesandte in Berlin, sprach von den «gefährlichsten Spannungen» bisher. Der Bundesrat versuchte, die Lage auch politisch zu entschärfen. Er entschuldigte sich Anfang Juli bei Deutschland, auch für Einsätze auf deutschem Gebiet, die gar nie stattgefunden hatten. Schon am 26. Juni lieferte die Schweiz die mehr als zwei Dutzend internierten deutschen Piloten aus – ein klarer Verstoss gegen die Haager Konvention von 1907. «Die Neutralität wurde in der Luft nicht nur nicht mehr verteidigt, sondern man verstiess auch gegen das Neutralitätsrecht», sagt Jakob Tanner.
Nach dem Einlenken der Schweiz verlagerte sich Hitlers Interesse nach England, wo eine heftige Luftschlacht mit der Royal Air Force tobte, und bald auch Richtung Sowjetunion, die der Führer erobern wollte.
Die Einsatzdoktrin der Schweizer Armee aber blieb unverändert: Bis im November 1943, als sich das Kriegsgeschehen langsam zuungunsten der Deutschen veränderte, sollte die Schweizer Luftwaffe keine Einsätze mehr fliegen. Der Bundesrat ordnete auf Druck der Deutschen im Herbst 1940 gar die Verdunkelung des Landes und die nächtliche Abschaltung der Radiosender an. Damit sollte den britischen Bombern die Orientierung erschwert werden.
Erst gegen Ende des Krieges war die Luftwaffe wieder in Kampfhandlungen verwickelt. «Im Gegensatz zur ersten Phase der Luftraumverteidigung ist dies ein eher verdrängter Teil der Geschichte», schreibt der Basler Historiker Georg Kreis. Der Grund: Die Schweiz nahm die Befreier Europas ins Visier. Alles in allem wurden durch Schweizer Fliegertruppen 6 Flugzeuge und durch die Fliegerabwehr 9 Flugzeuge der Alliierten abgeschossen. Insgesamt kam es laut Kreis zu 137 Notlandungen auf Schweizer Territorium. Alleine am Samstag, 18. März, landeten gleich 12 mächtige Bomberflugzeuge der Alliierten im Raum Zürich. Tags darauf pilgerten zwischen 50 000 und 80 000 Schaulustige mit den SBB nach Dübendorf, um sich die Vögel aus der Nähe anzusehen.
Die Angriffe verärgerten Engländer und Amerikaner. Sie zeigten kaum Verständnis dafür, dass die Schweiz ihre Bemühungen, Europa von den Nazis zu befreien, sabotierte. Der Bundesrat jedoch verwies auf die Neutralität, welche ihn verpflichte, sämtliche feindliche Flugzeuge über der Schweiz zu bekämpfen.
Insgesamt kam es im Zweiten Weltkrieg zu 6501 Grenzverletzungen, 198 Flugzeuge landeten in der Schweiz und 56 stürzten ab.
Opfer gab es aber auch auf Schweizer Seite. Im Frühjahr 1944 bombardierten amerikanische Flugzeuge Schaffhausen und Stein am Rhein. Man hielt die beiden Städte nördlich des Rheins für deutsche Ortschaften. Bei diesen Angriffen kamen über 40 Menschen ums Leben, mehr als 100 wurden verletzt.