200 Stunden an Interviews mit über 50 Beteiligten – darunter Politikerinnen und Politiker, Spitalverantwortliche, Epidemiologen oder Virologinnen – sowie vertrauliche Protokolle von 50 Krisensitzungen in Bern: Das Rechercheteam von «Tamedia» hat eine Chronik der Coronakrise in Buchform veröffentlicht.
«Lockdown» heisst dieses Buch. watson hat mit Co-Autor und Co-Leiter des Recherchedesks, Thomas Knellwolf, darüber geredet und die wichtigsten Erkenntnisse aus der Lektüre rausgepickt.
Herr Knellwolf, können Sie hellsehen?
Thomas Knellwolf: Leider nicht, sonst wäre das Leben einiges einfacher (lacht). Wieso meinen Sie?
Weil Sie sich bereits vor dem Lockdown dazu entschlossen haben, ein Buch über die Coronakrise zu schreiben.
Die Coronakrise hatte seinen Ursprung ja nicht in der Schweiz. Einige Kollegen haben sich bereits intensiv damit auseinandergesetzt, als die Schweiz noch damit beschäftigt war, zu beschwichtigen.
Im Buch wird mitunter aufgedeckt, dass bereits im Januar eine chinesische Reisegruppe aus Wuhan das Coronavirus in die Schweiz brachte. Drei der Touristen hatten Symptome und wurden später positiv getestet. Glücklicherweise haben sie damals niemanden in der Schweiz angesteckt. In Paris jedoch schon.
In den letzten sechs Monaten wurde Tag und Nacht über Corona berichtet. Wieso braucht es dieses Buch jetzt noch?
Ich glaube, viele Leute haben den Überblick verloren. Diesen können wir liefern. Wir wagen mit diesem Buch den ersten Versuch, das Geschehene kritisch aufzuarbeiten.
Welcher der 14 Journalisten hatte den schwierigsten Job dabei?
Am belastendsten war es, die Betroffenen zu begleiten. Zum Beispiel die drei erwachsenen Geschwister, die beide Elternteile innerhalb von zwölf Tagen an das Virus verloren haben. Oder die Leiterin eines Altersheims bei Glarus, in dem alle gesunden Bewohner das Heim verlassen mussten und die dort verbliebenen fast alle verstarben.
Im Buch wird unter anderem die Familie von Anne-Lise und Henri-Paul Cornu begleitet. Das Coronavirus traf die Familie hart. Innerhalb von zwölf Tagen ist das Ehepaar Cornu dem Virus erlegen.
Sie haben ja nicht nur Betroffene durch die Krise begleitet, sondern zum Beispiel auch Alain Berset. Was für eine Note würden Sie dem Gesundheitsminister für die letzten sechs Monate geben?
Eine Note kann ich ihm nicht geben. Klar ist jedoch: Die Schweiz war miserabel auf das Virus vorbereitet, der Pandemieplan hat überhaupt nichts gebracht. Als Gesundheitsminister ist Berset dafür mitverantwortlich zu machen. Auch der Lockdown kam vergleichsweise spät. Wäre er früher gekommen, hätte dies einige Menschenleben retten können.
Gewiss hat er aber auch Dinge richtig gemacht, oder?
Natürlich. Hoch anzurechnen ist ihm das frühe Verbot von Grossveranstaltungen. Das war elementar im Kampf gegen das Virus. Auch dass kein kompletter Lockdown wie in Frankreich oder Italien ausgerufen wurde, war die richtige Entscheidung.
Also eine gute 4.5?
Vielleicht sogar ein bisschen mehr, denn er selber hat ja auch gut kommuniziert, was überaus wichtig war.
«Lockdown» gewährt Einblicke in das Krisenmanagement von Alain Berset. So wird zum Beispiel die Geschichte erzählt, wie sich der Gesundheitsminister in nur 10 Minuten entschieden hat, die Schulen in der Schweiz zu schliessen. Dies, nachdem er zuerst dagegen war, dann aber die Meldung aus Frankreich kam, dass dort alle Schulen schliessen würden.
Ihnen ist es gelungen, per Öffentlichkeitsgesetz zu 50 geheimen Protokollen von Krisensitzungen in Bern zu gelangen. Was konnte man diesen abgewinnen?
Sie zeichnen einen ziemlichen Kontrast auf zu dem, was öffentlich kommuniziert wurde. Zum Beispiel bei den Masken: Vordergründig wurde gesagt, dass sie nichts bringen, bei den Sitzungen wurde jedoch sehr offen ausgesprochen, dass es einfach zu wenige davon habe.
Also hat man die Bevölkerung in der Maskenfrage angelogen?
Man hat ihr zumindest nicht reinen Wein eingeschenkt. Es wäre besser gewesen, wenn man der Bevölkerung die unangenehme Wahrheit zugemutet hätte. Wir leben in einer direkten Demokratie mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern.
Reinen Wein eingeschenkt hat der Spitalsoldat, den Sie auftreiben konnten. Er liess kein gutes Haar an seinem Einsatz. War die Mobilmachung der Armee ein einziger PR-Stunt?
Nein. Im Nachhinein mag das vielleicht so wirken. Aber wie Brigadier Raynald Droz bereits gesagt hat: Die Feuerwehr rückt lieber mit einem zu langen als mit einem zu kurzen Schlauch aus. Nachdem jedoch klar wurde, dass es die Hilfe der Sanitätseinheiten nicht wirklich braucht, hätte man dies auch zugeben können. Da hatte man den Mut nicht dafür.
Dem Rechercheteam von «Tamedia» ist es gelungen, einen Spitalsoldaten aufzutreiben, der zur Unterstützung der hiesigen Spitäler aufgeboten wurde. Äusserst detailliert zeigt dieser im Buch auf, wie er und seine Kumpanen im Spitalbattaillon 5 hauptsächlich den Pflegenden in den leeren Spitälern im Weg standen und die Armee zu stolz war, um anzuerkennen, dass es sie nicht braucht.
Was muss die Schweiz bei einer allfälligen zweiten Welle besser machen?
Wir sind bereits besser vorbereitet. Die Maskenlager sind voll, die alten Leute sind nicht mehr ungeschützt. Wir sind auch mental besser vorbereitet. Wir haben Erfahrung im Umgang mit dem Virus sammeln können, wir wissen, was passieren kann. All dies stimmt mich eigentlich zuversichtlich, dass eine allfällige zweite Welle nicht so verheerend werden würde.
PS: Zum Glück hat Tamedia, oder besser die TX Group AG den riesigen «Schweizer Bestseller» Aufdruck entfernt. Ist echt überheblich so etwas auf ein Buch zu drucken, noch bevor das erste Exemplar verkauft ist.
Kein Ereignis welch man nicht zu Geld machen kann...