Gleich und Gleich gesellt sich gern. Was der griechische Dichter Homer schon vor fast 3000 Jahren wusste, hat seine Gültigkeit heute nicht verloren. Wir fühlen uns wohl, wenn wir umgeben sind von Menschen, deren Blick auf die Welt wir teilen. Dank neuer Kommunikationsmittel und der Digitalisierung sind wir zwar besser vernetzt, bleiben aber vermehrt unter uns. Schlau programmierte Algorithmen schlagen uns vor, welche Informationen uns interessieren könnten. Wir reproduzieren unsere Ansichten, ohne andere Meinungen einzubeziehen und bleiben isoliert in unseren Filterblasen.
Um dem entgegenzuwirken, haben sich Vanessa Villa und Maurice Sobernheim am Sonntag zum Gespräch getroffen. Sie sind zwei von insgesamt 1500 Personen, die durch die Aktion «Die Schweiz spricht» zusammengeführt wurden.
Ihr Profil könnte unterschiedlicher nicht sein: Sie ist 22 Jahre alt, wohnt in der Stadt Zürich, ordnet sich politisch weder links noch rechts ein. Er ist 61-jährig, lebt in Thalwil und ist aktives Mitglied der Alternativen Liste. Sechs politische Sachfragen haben Villa und Sobernheim komplett anders beantwortet. Auf den ersten Blick gemeinsam haben sie einzig, dass sie am Sonntag den Schritt aus ihrer Filterblase wagten.
Beim Händeschütteln wird sogleich das «Du» angeboten. Sie bestellt Pfefferminztee, er tut es ihr gleich. Dann herrscht kurz etwas Ratlosigkeit. Worüber spricht man, wenn man das Gegenüber nicht kennt? Sobernheims Smartphone surrt und meldet ihm, dass er die Batterien seines Hörgerätes wechseln muss. Während er in seinem Rucksack nach dem Etui mit dem Ersatzgerät sucht, hält er ein Loblied über die Vorteile der Digitalisierung, zeigt Villa, wie geschickt er sein Telefon nutzt und sagt, dass dieses Ding halt schon extrem praktisch sei, eben weil er es zum Beispiel mit seinem Gerätchen in seinem Ohr verbinden könne.
Das Eis ist gebrochen, Villa streicht sich die Haare aus dem Gesicht und zeigt Sobernheim, dass auch sie ein Hörgerät besitzt. Sie sei taub auf die Welt gekommen und besitze Implantate. «Das habe ich ja gar nicht gemerkt, dass du hörbehindert bist!», ruft Sobernheim erstaunt aus. Schnell korrigiert Villa: «Ich bevorzuge das Wort ‹beeinträchtigt›. Ich fühle mich nämlich überhaupt nicht behindert.»
Schnell wird klar: Eher ist es ein Graben der Generationen, der die Gesprächspartner voneinander trennt. So hat Sobernheim zwar nichts gegen Homosexuelle per se, doch mit der Vorstellung, dass sie Heiraten oder Kinder adoptieren dürfen, hat er Mühe. Villa entgegnet vehement, dass hier die Schweizer Gesetze nicht zeitgemäss seien. «Warum sollten schwule und lesbische Paare nicht dieselben Rechte haben wie Heterosexuelle? Die sind doch genau gleich.»
Politisch sind sie sich in vielen Fragen gar nicht so uneinig. Villa sagt zwar, die Schweiz solle nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen, ist dann aber entsetzt, als ihr Sobernheim von einer Eritreerin erzählt, die vor Kurzem zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde, einzig aus dem Grund, dass sie eine Sans-Papiers ist.
Auch bei der Frage über den Sinn und Unsinn einer Frauenquote haben Villa und Sobernheim auf den ersten Blick unterschiedliche Ansichten. Sie ist der Meinung, bei der Besetzung einer Arbeitsstelle komme es auf die Qualifizierung und nicht auf das Geschlecht an. Er sagt: «Ich finde es gut, wenn ein Team gemischt ist und nicht nur aus Männern besteht.» Dagegen hat Villa nichts einzuwenden.
Nach einer Stunde zeigt sich: Trotz der unterschiedlichen Herkunft, dem unterschiedlichen Umfeld, in dem sich Villa und Sobernheim bewegen, trotz dem 40-jährigen Altersunterschied – so verschieden sind sich die Beiden im Grunde gar nicht.