Am Ende reicht es «nur» zu einem Unentschieden für das kleine Ungarn. Trotz der drückenden französischen Überlegenheit wäre für den Gastgeber vielleicht sogar noch mehr drin gelegen. Das Team von Trainer Marco Rossi bot dem Weltmeister Paroli und hätte sogar gewinnen können, hätten sie in der 66. Minute besser aufgepasst.
Doch wie ist es den Ungarn gelungen, Kylian Mbappé & Co. so gut im Zaum zu halten? Wie schaffte der Fussballzwerg das, was an einem grossen Turnier seit den Portugiesen im EM-Finale 2016 niemandem gelungen ist? Wir verraten dir die wichtigsten Punkte.
Die Ungarn besannen sich darauf, aus einer stabilen Defensive zu agieren und überliessen dem Gegner den Grossteil des Ballbesitzes. Diese Spielweise liegt den Franzosen nicht besonders. Frankreich ist kein Team wie Deutschland oder Spanien, das sich den Gegner mit langen Ballstafetten zurechtlegt, um sich so Torchancen zu erarbeiten. Frankreich setzt auf schnelles Umschaltspiel und die Geschwindigkeit der Stürmer um Antoine Griezmann und Mbappé.
Bereits an der WM 2018 hatte Frankreich nur in zwei Spielen bedeutend mehr Ballbesitz als der Gegner. Ansonsten überliess das Team von Didier Deschamps die Aufgabe, das Spiel zu machen, hauptsächlich dem Gegner. Durch starkes Pressing und die kompakte Defensive sollen gegnerische Ballverluste erzwungen werden, die zu Kontern und im Optimalfall zu Toren führen. Dieses Spiel setzten die Franzosen gegen Teams wie Argentinien und Finalgegner Kroatien stark um. Auch Deutschland bekam dies im Auftaktspiel der EM im Jahr 2021 zu spüren.
Dazu liessen sich die Ungarn aber nicht hinreissen. Frankreich musste sich jede Chance selbst erarbeiten und konnte nicht auf Fehler im Aufbauspiel des Gegners hoffen. Das bereitete ihnen Schwierigkeiten, da sie ihre Schnelligkeit nicht ausspielen konnten. Zwingt man die Franzosen also dazu, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, beraubt man sie ihrer grössten Stärke.
Das Ziel der Ungarn war klar: Sie wollten kein Tor kassieren und hofften darauf, mit etwas Glück einen Konter erfolgreich abschliessen zu können. Dies gelang ihnen, weil sie vor allem in der zweiten Halbzeit defensiv sehr stabil standen. Zu Beginn kam Frankreich zu mehreren guten Chancen, wo Kylian Mbappé und Karim Benzema aber scheiterten. Wäre einer dieser Versuche im Tor gelandet, wäre das Spiel wohl ganz anders verlaufen.
Dazu gehörte auch etwas Glück, doch die Ungarn schafften es gut, Frankreich von ihrem Tor fernzuhalten. Der Abwehrriegel blieb bestehen und dadurch konnten sie auch immer wieder mit Kontern einzelne Nadelstiche setzen. Dabei zeigte sich, dass auch die Verteidigung um Raphael Varane bei solchen schnellen Angriffen anfällig sein kann. Dies machte Ungarn im Vergleich zu Deutschland deutlich besser. Anstatt den Franzosen die Zeit zu geben, sich defensiv zu sortieren, liess das Team von Trainer Marco Rossi den Gegner kommen, um die entstandenen Räume beim Gegenangriff nutzen zu können.
Ungarn machte die Räume in der eigenen Hälfte sehr eng. Sie standen tief und auch bei Kontern blieben immer mehrere Verteidiger hinten, um bei Ballverlusten absichern zu können. So boten sie den schnellen Stürmern wie Mbappé, Griezmann oder später auch Ousmane Dembélé kaum die Möglichkeit, ihr Tempo auszuspielen.
Die tief stehende Verteidigung war nicht mit einem langen Ball zu überlisten. Mbappé gelang es nicht wie gegen Mats Hummels die gegnerischen Abwehrspieler zu überlaufen oder sie im 1-gegen-1 stehenzulassen. Einzig beim Gegentreffer waren die Ungarn zu weit aufgerückt und zeigten eine kurze Unaufmerksamkeit. Waren sie ansonsten stets in Überzahl, stürmten nach einem langen Abschlag von Goalie Hugo Lloris plötzlich vier Franzosen in den Strafraum und konnten die Chance nutzen.
Die französische Nationalmannschaft ist mit mehreren Spielern besetzt, die eine Partie an sich reissen und mit einer einzelnen Aktion entscheiden können. Um dies über 90 Minuten verhindern zu können, muss jeder einzelne Spieler während der gesamten Partie fokussiert bleiben und vollsten Einsatz zeigen. Die Ungarn haben dies gestern vorgemacht.
Das furchtlose Auftreten des Aussenseiters war beeindruckend, doch nur so kann man gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner bestehen. Teams, die mit der falschen Einstellung oder sogar mit Angst in ein solches Spiel gehen, bekommen schnell einmal eine Abreibung. Das bekommen beispielsweise Gegner von Bayern München oder Manchester City regelmässig zu spüren. Davon war am Samstag aber nichts zu sehen. Alle Profis in den roten Trikots stellten sich in den Dienst der Mannschaft und erkämpften den Punkt gemeinsam.
Ungarn hat gezeigt: Frankreich ist nicht unschlagbar. Natürlich war gestern auch etwas Glück dabei. Wenn Frankreich effizienter auftritt, könnte das Spiel sehr früh in eine ganz andere Richtung kippen, doch die Ungarn brachten sich mit ihrer Spielweise in die beste Ausgangsposition. An einem Glanztag sind die Franzosen wohl das beste Team der Welt – nicht umsonst ist der Weltmeister auch an der EM als grösster Favorit gestartet.
Dennoch haben die Ungarn vorgemacht, wie man den «Bleus» gefährlich werden kann. Das vom «Catenaccio» abgekehrte Italien scheint prädestiniert für diese Aufgabe. Ihre Verteidigung um Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci ist auch im hohen Alter noch sehr sicher und die Offensive ist nicht minder beeindruckend. Jedoch könnten die beiden Altstars in der Defensive ähnlich wie Mats Hummels Probleme bekommen, wenn Italien ihr Spiel aufzieht und Frankreich zu Kontern kommt.
Stattdessen könnte das Team von Roberto Mancini versuchen, aus einer stabilen Defensive zu agieren und mit Lorenzo Insigne und Domenico Berardi bei schnellen Gegenstössen für Gefahr zu sorgen. So könnte man den Franzosen grosse Probleme bereiten, wie Ungarn gezeigt hat. Das gilt auch für andere Nationen wie Portugal, den nächsten Gegner Frankreichs, oder England. Die Trainer der grossen Nationen dürfen sich nicht zu schade sein, sich auch mal bei den Aussenseitern etwas abzuschauen.