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Yonni Meyer: Ich, 36 Jahre, 77 Kilo, Kleidergrösse 40/42

Ich, 36 Jahre, 77 Kilo, Kleidergrösse 40/42

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Jetzt mal ehrlich ...
12.10.2018, 13:3212.10.2018, 15:02
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Vor knapp zwei Wochen durfte ich das erste Mal einen Themenabend zur Selbstliebe abhalten. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete – ausser knapp 300 Nasen, die gutes Geld bezahlt hatten, und denen ich dafür auch etwas bieten wollte.  

Ich hatte mich gut vorbereitet, hatte mich mit den zur Thematik eingereichten Fragen auseinandergesetzt und Texte herausgesucht, die ich dazu in der Vergangenheit geschrieben hatte. Doch das allein reichte nicht, um zwei Stunden zu füllen. Kernpunkt des Abends war ein Austausch über das von mir Angesprochene.

Ich war darauf angewiesen, dass sich die Leute an der Diskussion beteiligten, sonst würde das Konzept nicht funktionieren. Es war mir jedoch auch bewusst, dass am Anfang wohl eine Situation entstehen würde wie amigs am Feez in der Primar, wenn links die Buben und rechts die Meitli standen und niemand sich traute, zu «Cotton Eye Joe» zu shaken. Wollen taten sie alle, aber da war diese brennende Angst vor einer Blamage.  

Da sass ich also – «ich armer Tor» – und hatte keine Ahnung, was ich tat. Ich überlegte mir im Vorfeld natürlich, wie ich das alles am besten angehen würde, wie ich die Leute motivieren könnte, welche Konzepte sie überzeugen würden, wie ich am professionellsten rüberkommen könnte. Bis ich mir eingestand, dass die klügste Herangehensweise wohl einfach die Ehrlichkeit war, und auf dem ersten Slide meiner Powerpoint-Präsentation (deren Erstellung mir etliche unangenehme Uni-Flashbacks einbrachte und so einige Fluchsalven abverlangte) stand denn schliesslich:  

«Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue.»  

Der Abend wurde (soweit ich das aufgrund meines Erlebens und der vielen Rückmeldungen beurteilen kann) zu einem Erfolg. Die Leute öffneten sich, tauschten sich aus. Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters und mit unterschiedlichsten Lebens- und Liebesmodellen setzten sich mit ihren Erfahrungen auseinander und nahmen gegenseitig Bezug auf ihre Aussagen. Natürlich muss man im Hinterkopf behalten, dass sie dafür da waren. Trotzdem entstand innert kürzester Zeit ein Gemeinschaftsgefühl des Wohlwollens und der Offenheit, wie ich es in einer so grossen Menschengruppe noch nie erlebt habe.  

Im Nachklang fragte ich mich, woran das lag.  

Ich glaube, wir hatten als Gruppe gleich zu Anfang alle Formen der vorgespielten Perfektion über Bord geworfen – oder so kam es mir zumindest vor.  

Ich bin der Überzeugung, dass wir als Gesellschaft genau daran kranken: Wir hassen uns – und tun gleichzeitig so, als seien wir besser als alle anderen. Das ist natürlich extrem überspitzt ausgedrückt, aber wie sollen wir denn einen gesunden Umgang mit uns finden, wenn wir alle ständig so tun, als seien wir perfekt – und das Unschöne weglassen, weil wir uns nicht mehr trauen, über unser Hadern und unser Zweifeln zu sprechen? Und es geht ja nicht mal nur um das wirklich Unschöne, sondern auch um das vielleicht leicht Über- bzw. leicht Unterdurchschnittliche. So bekommen gewisse Dinge einen bitteren Ernst, der gar nicht nötig wäre.  

Ich ziehe hier gern Frauen und ihr Gewicht, ihr Alter oder ihre Kleidergrösse heran (Männer können Ähnliches gerne ergänzen). Um diese Kennzahlen entsteht ein Mysterium, wir wissen von den allerwenigsten Frauen in unserem Umfeld, wie schwer sie sind, viele Frauen weigern sich, zu verraten, welcher Jahrgang ihren Pass ziert. Meines Erachtens macht einen nichts älter, als sein Alter nicht zu verraten. Und das mit der Kleidergrösse ist der Beweis dafür, dass wir Frauen uns diese Maulkörbe oft selbst und untereinander auferlegen, denn ich kenne sehr wenige Männer, die mit der schlichten Zahl «42» überhaupt etwas anfangen können – also auf einer Frauenhose, sonst ist diese Zahl ja bekanntermassen die «Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest».  

Ich habe kürzlich in einem Text geschrieben, dass ich viele Männer im Umgang mit ihren Körpern oft bewundere, wenn nicht beneide (obwohl ich mir bewusst bin, dass auch dort eine Verschiebung stattgefunden hat). Dass ich mir wünschte, wir Frauen könnten uns bei einem Wiedersehen nach längerer Zeit auf den Hintern hauen und sagen: «Altiiii, bisch au fängs en rächte Mocke!», uns dann ein High 5 geben und eine Pizza essen gehen.   Solange wir diese Themen so unglaublich wichtig und uns selbst so unfassbar ernst nehmen, halten wir uns und andere in diesem bescheuerten Würgegriff von Konventionen, die über uns als Menschen doch kaum etwas aussagen.  

Immer wieder lese ich, dass wir halt eine «oberflächliche Gesellschaft» seien. Aber was ist eine Gesellschaft denn mehr als eine Ansammlung von Individuen wie dir und mir? Braucht es einen Schritt Richtung Offenheit – von Menschen, die keine Idealmasse haben?  

Falls ja: Ich fang aa! Ich habe bei einem Gewicht von gut 77 Kilogramm (geht auch gerne mal etwas höher) einen BMI von 26 Komma Irgendöpis, ergo leichtes Übergewicht. Mein Oberkörper passt in 38/40, mein Unterkörper in 40/42. Ich werde am 25. Januar 37 Jahre alt.  

So. Hui. An der Tastatur sitzt noch immer dieselbe Frau wie vorher. Surprise!  

Meine Frage lautet nun: Hilft das? Oder erzeugt das noch mehr Konkurrenz? Verlieren solche Dinge an Wichtigkeit, wenn man offen(er) darüber redet, oder richtet sich so noch mehr Fokus darauf? Entmystifizierung oder doppelter Stress?  

Ich persönlich erlebe offene Gespräche über solche Belange immer als Erleichterung, als Begegnung auf Augenhöhe, als Grundlage für wirkliche Tiefe – nicht nur auf körperlicher Ebene mit anderen Menschen mit zu vielen oder zu wenigen Rundungen, sondern auch im Bereich Lohn oder Prüfungsversagen oder sonstigen Belangen betreffend Status, sowie auch bei Themen rund um die psychische Gesundheit. Wenn man solche Dinge offen aussprechen kann, verlieren sie meines Erachtens an Stigma-Potential. Nur was man nicht weiss, macht einen heiss, denn der Umfang meines Hinterns oder dein Lohn oder die Anzahl Jahresringe auf unseren Knochen sind nur so lange spannend, bis wir sie kennen, und dann werden sie zu dem, was sie sind: Zahlen. Fertig.  

Wichtig: Ich rede hier nicht von einem generellen öffentlichen Kundtun wie ich es oben gemacht habe (und glaubt mir, komplett easy war das also auch nicht), sondern von einer generellen Offenheit, die sich dem Rahmen anpasst und so weit geht, wie man sich wohl fühlt, und die vermittelt, dass wir nicht allein sind in unserer Imperfektion, auf welcher Ebene auch immer ...  

... und dass diese Imperfektion ganz oft auch einfach sch****egal ist.

Yonni Meyer
Yonni Meyer (36) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt. 

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66 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Miicha
12.10.2018 15:33registriert März 2014
Dein Text erscheint direkt über dem von Emma Amour... Das sind Welten! Danke für deine Texte!
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achsoooooo
12.10.2018 14:19registriert Januar 2015
Noch zur Kleidergrösse: Man kann sich in eine zu kleine 36 quetschen, oder aber man trägt eine 38, die gut sitzt... In welcher Grösse man sich wohler fühlt, ist jedem selbst überlassen. Ich habe für mich selbst gelernt, dass mir der Komfort wichtiger ist als die Zahl, die innen am Etikett aufgedruckt ist.
Diese ist, sind wir ehrlich, sowieso keine Referenz, da sie in den verschiedenen Läden teils sehr variiert. In manchen geht mir 34, in anderen ist halt eine 38. So what 🤷
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Bruno Wüthrich
12.10.2018 14:06registriert August 2014
Liebe Frau Meyer, im Zeitalter von metoo und nervigen Sexismus-Debatten werde ich mich hüten, ihnen ein direktes Kompliment über Ihr Äusseres zu machen. Doch es ist nicht das erste Mal, dass Sie in einem Ihrer Texte Anspielungen auf Ihre Masse und Gewicht machen. Ich sah Sie aber einmal am Fernsehen (Club?) und kam dabei zum Schluss, dass Ihr persönliches Umfeld Ihnen diesbezüglich eigentlich (ehrlich gemeintes) positives Feedback geben müsste. Alles andere wäre völlig unverständlich.
Falls dies so ist, müsste es Ihnen etwas leichter fallen als anderen, darüber zu reden oder zu schreiben.
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