Bei Torhütern ist der Grat, der zwischen einem gefeierten Helden und einem verschmähten Versager liegt, besonders schmal. So sagte Gianluigi Buffon einst, dass ein Goalie ein bisschen masochistisch veranlagt sein müsse. Denn als Torhüter gebe es nur eine Sicherheit: «Du wirst Gegentore kassieren und das macht dich unglücklich.»
Das wissen auch die vier Halbfinal-Goalies. Gianluigi Donnarumma, Unai Simon, Jordan Pickford und Kasper Schmeichel stehen vor den grössten Spielen ihrer Karriere. Sie alle könnten zu Helden werden, wenn sie es schaffen, ihrem Heimatland zum EM-Titel zu verhelfen.
Er debütierte bereits mit 16 Jahren für die AC Milan und kurz nach seinem 19. Geburtstag konnte er sich auch die Position des Stammtorhüters in der italienischen Nationalmannschaft sichern. Dort trat er ein schweres Erbe an – Donnarumma folgte auf den legendären Gianluigi Buffon, den Rekordnationalspieler der «Squadra Azzurra» und Weltmeistergoalie von 2006.
Doch der neue «Gigi» liess sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit der aus dem Klub gewohnten Souveränität löste er auch die Aufgabe im italienischen Tor mit Bravour. In seinen bisher 31 Länderspielen verlor Italien nur einmal und kassierte nie mehr als ein Gegentor.
Unterstützt wird Donnarumma dabei von der starken Abwehr um die Routiniers Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini. So hatte er an der EM mit erst sechs Paraden vergleichsweise wenig zu tun, doch wenn es ihn brauchte, war er da. Einzig gegen Österreich und nach einem Elfmeter von Belgiens Romelu Lukaku musste er hinter sich greifen. Donnarumma traf dabei aber kaum eine Schuld. Er war bisher fehlerlos und die wenigen gefährlichen Schüsse, die auf sein Tor flogen, parierte er sicher.
Gegen Spanien wird Donnarumma, der nach der EM wohl zu PSG wechselt, voraussichtlich mehr zu tun bekommen als im bisherigen Turnierverlauf. Spanien ist das Team mit den meisten Torschüssen an der EM – 39 Versuche konnten die Iberer in ihren fünf Spielen auf das gegnerische Tor bringen. Doch Nationaltrainer Roberto Mancini kann auch im Halbfinal auf seinen Rückhalt zählen, wenn man Donnarummas bisherige Leistungen als Erfahrungswert nimmt. Der italienische Goalie sagte, er sei aufgeregt, weil es sein erstes grosses Turnier sei, doch er hat grosse Ziele: «Ich will im italienischen Trikot so weit kommen wie möglich und hoffe, dass wir den Traum aller wahrmachen können.»
Der Baske hat an dieser EM wohl alle Emotionen durchgemacht, die ein Torhüter auf dem Fussballplatz erleben kann. Im Achtelfinal gegen Kroatien unterlief ihm ein Fehler, der einem Goalie auf diesem Niveau niemals unterlaufen dürfte: Simon schaffte es nicht, den Rückpass von Pedri unter Kontrolle zu bringen und brachte die Kroaten so in Führung. Wäre Spanien so ausgeschieden, Simon wäre wohl der Depp der Nation gewesen.
Doch zum Glück des Goalies von Athletic Bilbao kam es anders – auch dank Unai Simon, der in der Folge einige starke Paraden zeigte und bei den weiteren Gegentoren machtlos war. Spanien schlug Kroatien nach Verlängerung und konnte sich dann auch gegen die Schweiz durchsetzen. Dort stand der 24-Jährige erneut im Mittelpunkt. Im Viertelfinal avancierte er zum Penaltykiller, als er gegen die Schweiz zwei Elfmeter halten und seinem Land so in den Halbfinal verhelfen konnte. Zudem wurde er als Spieler des Spiels ausgezeichnet. Dem Tiefpunkt im Achtelfinal folgte der Höhepunkt im Viertelfinal gegen die Schweiz.
Trotz des Patzers gegen Kroatien liess Nationaltrainer Luis Enrique nie Zweifel an seiner Nummer 1 aufkommen und das, obwohl er mit David de Gea einen erprobten Premier-League-Goalie auf der Bank hat. Nun steht Simon, der erst seit zwei Jahren Stammkeeper in der höchsten spanischen Liga ist, vor dem grössten Spiel seiner Karriere. Im November 2020 stand er erstmals im Tor der «Furia Roja» und absolvierte seither mit einer Ausnahme jede Partie über die volle Distanz.
Der Halbfinal gegen Italien wird das 13. Länderspiel des Spaniers sein und die Iberer brauchen erneut einen starken Keeper, um gegen die starke Offensive bestehen zu können. Das Ziel von Simon ist klar: «Jetzt müssen wir die EM gewinnen.»
Die Schwachstelle der Engländer befindet sich traditionell zwischen den Pfosten. Das Mutterland des Fussballs hatte des Öfteren mit einem Torhüterproblem zu kämpfen. Mit Jordan Pickford scheint aber eine gute Lösung gefunden zu sein. Schon an der WM 2018 war Pickford ein sicherer Rückhalt auf dem Weg in den Halbfinal, dieses Mal übertrifft er sich noch einmal.
Mit der kräftigen Unterstützung seiner Vordermänner konnte er bisher ohne Gegentor durch die Europameisterschaft pflügen. Ähnlich wie Donnarumma hatte Pickford bisher wenig zu tun, dennoch konnten sich die «Three Lions» auf ihren Hintermann verlassen. Mit Dänemark kommt nun aber eine erste richtige Prüfung – nach Spanien schossen die Dänen am meisten auf das Tor des Gegners. Dabei gelangen ihnen in bisher fünf Spielen bereits elf Tore.
Der Halbfinal zwischen England und Dänemark wird also auch das Duell der besten Defensive gegen eine der besten Offensiven an dieser EM. Auf dem Weg zur auf der Insel heiss erwarteten Heimkehr des Fussballs braucht es also auch eine weitere starke Leistung des 27-jährigen Torhüters. Noch ist Pickford an diesem Turnier fehlerlos – ungewohnt für einen englischen Goalie, man erinnere sich an Robert Green 2010 oder auch Joe Hart 2016.
Auch dem Torhüter vom FC Everton sind solche Aussetzer nicht unbekannt. In der Premier League machte er nicht immer den sichersten Eindruck, doch im Nationaltrikot konnte er die Patzer an der EM bisher abstellen. Einzig ein missratener Klärungsversuch gegen die Ukraine, bei dem Pickford den Ball nicht richtig traf, sorgte für einen Schreckmoment. Kommt gegen Dänemark und im Final kein weiterer hinzu, ist für die «Three Lions» alles drin.
Fünf Jahre alt war Klein-Kasper beim ersten und bisher einzigen Triumph Dänemarks an einem grossen internationalen Turnier. Bei der EM 1992 wurde «Danish Dynamite» völlig überraschend Europameister. Damaliger Torhüter und Held des Finals gegen Deutschland? Kaspers Vater Peter Schmeichel.
🔦 EURO Spotlight: 🇩🇰 Peter Schmeichel was a walking highlight reel at EURO 1992!
— UEFA EURO 2020 (@EURO2020) May 19, 2021
🏆 EURO 1992 winner ✅
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29 Jahre später steht Dänemark wieder in einem EM-Halbfinal und der Sohn der Goalielegende könnte in die Fussstapfen seines Vaters treten. Kasper Schmeichel ist mit 34 Jahren der älteste und erfahrenste verbliebene Stammtorhüter im Turnier. Seit zehn Jahren hütet er das Tor von Leicester City und konnte mit dem Meistertitel 2016 einen ähnlich überraschenden Erfolg feiern wie sein Vater mit dem Nationalteam. Nun fehlen Schmeichel zwei Spiele zu seinem ersten Titel mit Dänemark.
Dabei war die Stärke der Dänen anders als bei den Engländern nicht die Defensive, sondern die Offensive. Der Torhüter von Leicester City kassierte bereits fünf Gegentore und behielt nur im Achtelfinal gegen Wales eine weisse Weste. Schmeichel ist also nicht der Grund für den Erfolg der Dänen. Dennoch ist er ein sicherer Rückhalt, der sich noch nichts zuschulden kommen lassen hat.
Die Akteure des nächsten Gegners kennt er aus der Premier League bestens. Gegen England braucht Dänemark einen überragenden Kasper Schmeichel, der wie sein Vater zum Helden avancieren könnte. Peter Schmeichel parierte im Halbfinal 1992 den entscheidenden Elfmeter von Marco van Basten und das traut er auch seinem Sohn zu: «Er wird bereit sein.»
Alle vier Torhüter konnten an dieser EM starke Leistungen zeigen. Statistisch gesehen war Jordan Pickford bisher der beste. Er kassierte noch kein einziges Gegentor und führt die vier Halbfinalisten auch bei den Paraden an. Schmeichel und Simon mussten am häufigsten hinter sich greifen, doch mussten sie auch die meisten Schüsse entschärfen.
Torhüter nur mit den nackten Zahlen zu vergleichen ist allerdings oft schwierig. Es kommt selbstverständlich auch auf die Qualität der Verteidiger vor den Schlussmännern an und nicht jeder Torschuss ist gleich gefährlich. Deshalb sollen hier auch die «erwarteten Gegentore» miteinbezogen werden. Auch hier ist Jordan Pickford der beste. Eigentlich hätte er an der EM bereits 1,5 Gegentore kassieren sollen, bekanntlich wurde er aber noch nicht bezwungen. Ausser dem Engländer konnte einzig Unai Simon weniger Gegentore kassieren, als bei den Schüssen, die auf sein Tor kamen, zu erwarten gewesen wäre.
Die Torhüter haben an diesem Turnier bisher erst fünf Spiele absolviert. Da die Aussagekraft der Statistiken daher etwas beschränkt ist, sollen nun noch die Leistungen der vergangenen Klubsaison verglichen werden. Alle Halbfinal-Goalies spielen in einer der europäischen Topligen: Pickford (Everton) und Schmeichel (Leicester) stehen in England unter Vertrag, Donnarumma (Milan) verdient in Italien sein Geld und Unai Simon (Bilbao) in Spanien.
Der italienische Keeper konnte in der Saison 2020/21 statistisch gesehen am meisten überzeugen. Die «Rossoneri» kassierten 2,7 Tore weniger als erwartet, wenn Donnarumma im Tor stand. Auch Pickford und Schmeichel konnten mehr Tore verhindern als erwartet. Anders sieht dies beim Spanier aus: Unai Simon musste 3,4 Tore mehr hinnehmen, als bei den Torschüssen zu erwarten gewesen wäre.
Zum Schluss gilt es noch die Elfmeterstatistiken der vier Goalies zu vergleichen. Dies könnte in einem K.o.-Spiel am Ende entscheidend sein. Unai Simon konnte sich gegen die Schweiz bereits auszeichnen – er hielt zwei der drei Elfmeter, die auf das Tor kamen. Die Statistik zeigt jedoch nur Penaltys im Spiel und nicht jene während eines Penaltyschiessens. Gianluigi Donnarumma sticht heraus: Mehr als jeden dritten Elfmeter konnte der Italiener parieren. Die anderen drei befinden sich ungefähr auf einem Level.
Statistisch gesehen haben England und Italien bei den Torhütern einen kleinen Vorteil gegenüber ihren Gegnern. Jordan Pickford wächst in der Nationalmannschaft wie schon an der WM 2018 über sich hinaus. Gianluigi Donnarumma hingegen ist bereits in jungem Alter einer der besten Torhüter der Welt. Der 22-Jährige verfügt über einen Marktwert von 60 Millionen Euro, die anderen drei verbliebenen Goalies kommen zusammen auf 48 Millionen Euro.
Bisher konnten sich alle Halbfinalisten auf ihre Schlussmänner verlassen. Gegen die stärkeren Gegner werden sie noch mehr im Mittelpunkt stehen als ohnehin schon. Nun wird es darauf ankommen, wer noch einen drauflegen kann und in den alles entscheidenden Momenten zur Stelle ist. In Spielen wie jenen, die noch kommen, werden Helden geboren und es scheint nicht unwahrscheinlich, dass einer dieser vier Torhüter am Sonntag in London den EM-Pokal in die Höhe stemmt und als ein solcher Held gefeiert wird.