Fast die Hälfte der Wählerinnen und Wähler in den USA hat Donald Trump die Stimme gegeben. Für Aussenstehende ist dies schwierig zu verstehen. Denn Trump ist ein Prahler und ein Gauner – a crook. Er ist das politische Produkt von Reality TV. Schrill, überdreht, rücksichtslos, egoistisch, ohne irgendwelche Moral oder Skrupel.
In der Welt von Reality TV ist ein Donald Trump keine exotische Frucht, sondern Hausmannskost. Man ist sich so einen gewöhnt. Es war nicht Ausnahme, sondern absehbar, dass eine Figur wie diese in die Welt der Politik eindringt – umso weniger, als die Amerikanerinnen und Amerikaner das Gewäsch der Politik und der Politiker aus allen Lagern längst satt haben.
Diesen Widerwillen hat Trump ausgenützt. Er ist, was die Classe Politique in Europa als «Populisten» beschimpft. Einer der erfolgreichsten Sprüche auf seinen Versammlungen lautete: I am not a politician. Es kann sein, dass der Caudillo in Washington nun von der Bühne abtreten muss. Aber das Modell wird auf dem Spielplan bleiben. Demnächst auch auf der anderen Seite des Atlantik.
Das Neue, «Charismatische» an Trump erklärt seine erste Wahl. Was aber hat seine Zugkraft erhalten, nach vier Jahren Clownerie, Hetze, Lüge, schamloser Vermischung der amtlichen und der privaten Geschäfte?
Es gab ein rationales Argument, Trump die Stimme zu geben: Wer glaubt, dass gesellschaftliche Entscheidungen am besten dem «freien Markt» überlassen werden; dass staatliche Vorschriften (regulations) in jedem Fall das Spiel jenes Marktes behindern und die Entfaltung der wirtschaftlichen Energien unterdrücken; dass der Einsatz von staatlichen Steuermitteln niemals die Lösung gesellschaftlicher Schwierigkeiten befördern kann – wer solches glaubt, der wählte Trump, nicht Biden.
In den USA heisst dies «Konservatismus», und Trump hat dieser konservativen Sache treugedient. Er hat die Steuern massiv gesenkt, hunderte von staatlichen Vorschriften ausser Kraft gesetzt und dafür gesorgt, dass die Bundesgerichte auf Jahrzehnte hinaus mit «konservativem» Personal besetzt werden. Eine grosse Zahl von US-Bürgern ist für solche Dinge sehr empfänglich. Nicht zuletzt wegen der Börse, die mit der economy gleichgesetzt wird.
Amerikaner, die verfügbare Mittel haben, stecken ihre Altersversorgung in die Börse: Im Gegensatz zur Schweiz, wo die «Zweite Säule» den Normalbürger von solchen Sorgen befreit, ist der Amerikaner dazu verdammt, sein eigener kleiner Kapitalist zu sein – lebenslang. Bis zum Ausbruch der Corona-Krise stand die Börse hoch. Deshalb die Bereitschaft, einen Trump zu wählen, auch wenn sein Charakter oder seine Amtsführung viele «Konservative» ekelt.
Der Caudillo hat das feine Gewebe, das eine funktionierende Demokratie trägt, erheblich beschädigt. Er hat das Vertrauen in die Institutionen wissentlich untergraben, hat mit den Faschisten geflirtet, den Chauvinismus angestachelt und die Animosität gegen alles Fremde angefacht. Er hat Hass gesät und ist bereit, Hass zu ernten.
Dennoch sind zahlreiche «Konservative» bereit, den fragwürdigen Charakter an der Staatsspitze (und am Atomwaffen-Knopf) zu schlucken. Sie ordnen ihre Bedenken der «konservativen» Ideologie unter. Es gibt andere Beispiele dafür in der Geschichte. Die Verteidiger des Generals Augusto Pinochets im Chile der siebziger Jahre waren nicht alles blutrünstige Faschisten, sondern Bürger, die an den «freien Markt» und den staatlichen Rückzug aus den wirtschaftlichen Entscheidungen glaubten.
Es gibt andere «Konservative». Sie sind ebenfalls für den «freien Markt» und den schmalen Staat , aber sie ordnen Trumps Defizite nicht der sozialen und ökonomischen Ideologie unter. In der Republikanischen Partei ist für solche Leute kein Platz mehr. Ihnen bot sich Joe Biden an. Ein altes Parteischlachtross, 77-jährig, netter Kerl, aber mit dem Reservetank unterwegs. Biden tat alles, um dieser Wählerschaft den Schritt über den Parteigraben hinweg zu erleichtern. Dreh- und Angelpunkt seiner Kampagne waren «Anstand» und «Normalität», der Respekt vor der Rolle des Staats, den Institutionen, den demokratischen Prozessen. In Europa würde man das «bürgerlich» nennen.
So viel zu „socialism“... *kreisch*