Herr Kessler, Reiche verlassen die Städte zunehmend – Arme zieht es laut einer Studie des Bundes dagegen ins Zentrum. Überrascht Sie dieser Befund?
Thomas Kessler: Der Befund ist extrem verkürzt und bildet nicht die ganze Wirklichkeit ab. Die ausländischen Zuzüger beispielsweise zahlen mehr Steuern als die Wegzüger. Rasche Veränderungen sind primär ein Problem auf Quartier-Ebene. Zieht jemand wegen der steigenden Mietzinsen aus dem Zürcher Seefeld nach Schwamendingen, wird er von dieser Studie nicht erfasst, weil nur die Gemeinde-Ebene untersucht wurde.
Sie sprechen die sogenannte «Seefeldisierung» an. Sie ist also ein reales Problem?
Die Debatte wird zwar zugespitzt. Aber dass günstiger Wohnraum irgendwann durch Neubauten ersetzt wird, ist ein logischer Vorgang: Nähert sich ein Wohnblock dem Ende seines Lebenszyklus, wohnen dort oft Schlechtverdienende, häufig Migranten. Mit der Sanierung müssen die bisherigen Bewohner wegziehen. Oft kommt dieser Prozess in einem ganzen Quartier ungefähr gleichzeitig in Gang.
Und wer zieht denn in die teuren neuen Wohnungen, wenn die Gutsituierten doch aus den Städten wegziehen?
Weil die Studie nur erwerbstätige Personen zwischen 20 und 64 Jahren berücksichtigt, klammert sie die Rentner komplett aus. Dabei tauschen viele vermögende Senioren ihr Häuslein im Vorort gegen eine komfortable Alterswohnung in der Stadt ein. Dazu kommen die Menschen, die sich innerhalb der Stadt ein Upgrade leisten – etwa nach der Familiengründung oder einer Lohnerhöhung.
Und die Einkommensschwachen, die in die Stadt ziehen? Sind das am Ende einfach Studenten, die ein paar Jahre später dicke Löhne kassieren?
Darauf deutet einiges hin. Denn laut Studie sind die Zuzüger überwiegend jung und alleinstehend. Für eine Stadt und ihr kulturelles Leben sind die Studenten wichtig. Ziel muss natürlich sein, dass sie nach Abschluss des Studiums da bleiben. Dies auch aus einer gesamtschweizerischen Optik: Je mehr Menschen in Städten leben, desto besser geht es dem Land.
Das müssen Sie erklären.
Menschen, die in der Stadt wohnen, leben nachhaltig. Sie leisten einen Beitrag gegen das Pendeln und die Zersiedelung. Sie leben dort, wo die Angebote und Infrastrukturen bereits bestehen. Das entlastet das Land. Zudem ist die Lebensqualität in den Schweizer Städten top: Saubere Luft, beruhigter Verkehr, gepflegte Plätze.
Ist es mit der Idylle nicht irgendwann vorbei, wenn immer mehr Leute in die Stadt ziehen und sich auf den Füssen herumstehen?
Nein. Erstens lebten in den 70er-Jahren in allen Schweizer Städten mehr Menschen als heute. Zweitens entsteht Dichtestress nicht dort, wo die Menschen leben, sondern im Verkehr beim Pendeln und an Feiertagen. Und drittens stresst die miserable Architektur.
Miserable Architektur?
Ja, Chlötzli-Architektur ist wüst, egal wie viele Menschen darin wohnen. Sehen Sie sich mal im Raum Zürich-Nord um: Einheitsnorm-Blöcke im rechten Winkel. Die muss man ja farbig anmalen, damit die Kinder den Unterschied erkennen. Das ist kurzsichtige Kostenoptimierung.
Was schwebt Ihnen stattdessen vor?
Verschachtelte Häuser aus warmen Materialien, mit Kleingewerbe. Die Menschen brauchen Familiarität. Das beste Beispiel sind unsere mittelalterlichen Altstädte: Sie sind dicht gebaut und werden von den Bewohnern positiv wahrgenommen. So zu bauen, kostet etwas mehr, zahlt sich langfristig aber aus. Die Leute bleiben länger, geben dem Wohnraum mehr Sorge und die Durchmischung ist besser.
Apropos: Die Studie des Bundes besagt auch, dass Arme und Reiche zunehmend unter sich bleiben. Hier die Millionärs-Gemeinde, dort das Arbeiter-Dorf. Ein Problem aus Ihrer Sicht?
Ja. Entscheidend sind neben dem Einkommen aber auch kulturelle und soziale Faktoren. Eine Entmischung ist dann problematisch, wenn der Sozialhilfe-Anteil in einem Quartier oder einer Gemeinde steigt und das Bildungsniveau sinkt. Dann droht eine Negativspirale. Deutschland zeigt, wohin das führen kann – wo teilweise mehrere Generationen in der Sozialhilfe verharren, und Harz IV inzwischen eine Lebensperspektive ist.
Wer kann hier Gegensteuer geben – und wie?
Die Stadtentwicklung muss zusammen mit den Investoren und Genossenschaften ein breites Wohnraumangebot schaffen. Und in die Bildung und Quartierpflege muss investiert und Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit die leistungsstarken Schichten in den Städten bleiben. Dazu müssen nicht-deutschsprachige Kinder früh gefördert werden. In Basel besuchen sie schon vor dem Kindergarten eine gemischtsprachige Spielgruppe. Meiner Meinung nach sollte dies überall so sein, wo die Sozialhilfequote über dem Durchschnitt liegt.
Vor 25 Jahren galten Schweizer Städte als graue Drogenhöllen, heute sind sie Orte hoher Lebensqualität. Wagen Sie eine Prognose: Wie sieht es in einem weiteren Vierteljahrhundert aus?
Entscheidend wird sein, ob wir die Bildungsfernen – je nach Stadtteil oder Gemeinde machen sie einen Zehntel bis einen Viertel der Bevölkerung aus – in die Zeit der Digitalisierung und Robotik mitnehmen können. Gelingt das, werden die Städte weiter florieren. Hängen wir die Benachteiligten ab, schlägt das Pendel zurück: Dann drohen Ghettoisierung und grosse sozialen Probleme.