Blogs
Sektenblog

Infosekta: Verschwörungsdenken beschäftigt Sektenberatung

Sektenblog

Impfungen, Mikrochips, Nanopartikel – Verschwörungsdenken beschäftigt Sektenberatung

05.06.2021, 08:09
Hugo Stamm
Folge mir
Mehr «Blogs»

«Wie dumm und einfältig muss man sein, um einer Sekte auf den Leim zu kriechen.» Solche und ähnliche Kommentare bekomme ich oft zu hören, wenn ich über problematische Gruppen und Bewegungen aufkläre.

Eine solche Haltung zeugt von Ignoranz, denn sektenhafte Indoktrination ist ein perfides Instrument, um Menschen anzulocken, zu täuschen und schliesslich zu vereinnahmen. Ausserdem geht gern vergessen, wie leichtgläubig und beeinflussbar wir Menschen sind. Gerade Leute, die sich als unantastbar fühlen und geben, sind oft unachtsam und können leicht auf dem falschen Fuss erwischt werden.

Verschwörungsmythiker.
Die Verschwörungserzählungen rund um die Coronapandemie sorgen für Verunsicherung.Bild: Shutterstock

Wer nun glaubt, ich würde übertreiben, sollte sich gelegentlich für ein paar Tage ans Beratungstelefon von Infosekta setzen. Er würde bald erfahren, dass viele Sektenanhänger alles andere als blöd sind. Was die Ignoranten auch erleben würden: Von jedem Sektenschicksal sind nicht nur die Mitglieder oder Aussteiger betroffen, sondern auch die Angehörigen. Diese leiden oft in einer Weise mit, als habe ihnen der Arzt die Diagnose einer schweren Krankheit mitgeteilt.

3000 Kontaktaufnahmen – pro Jahr

Der Besucher würde auf der Zürcher Beratungsstelle ausserdem mitbekommen, dass die Sektenproblematik kein marginales Problem ist, sondern viele Leute betrifft. Wenn man alle problematischen Gruppen und Kirchen zusammennimmt, kommt man auf schätzungsweise 300‘000 Mitglieder. Und mindestens doppelt so viele Angehörige. Entsprechend oft klingelt das Telefon von Infosekta. 2020 nahmen fast 3000 Mal Ratsuchende Kontakt mit der Beratungsstelle auf, wie im neuen Jahresbericht nachzulesen ist.

Im Editorial schreibt das Infosekta-Team:

«Die Corona-Pandemie hat die Menschen und die Gesellschaft im Mark erschüttert. Verunsicherung und Angst sind der Nährboden für Verschwörungsmythen unterschiedlicher Ausprägung. Das bildet sich auch in unseren Beratungen ab. Familien drohen auseinanderzubrechen, wenn eine Person in einen ausgeprägten Verschwörungsglauben abdriftet. Wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen Ihr Bruder eröffnet: ‹Wenn du dich impfen lässt, können wir uns nicht mehr treffen. Geimpfte senden Nanopartikel aus, die in die DNS der anderen Menschen eindringen.›? Würden Sie ihm Kontra geben? Sich heimlich impfen lassen oder die Impfung noch etwas aufschieben, um die Beziehung nicht zu gefährden?»

Mit welchen Anliegen sich Angehörige an Infosakta wenden und was sie tun können, beschreibt die Infosekta-Leiterin im Artikel mit dem bezeichnenden Titel: «Mit der COVID-Impfung wird ein Mikrochip injiziert, um die Menschen zu überwachen».

Im Jahresbericht erwähnt Infosekta ein wegweisendes Urteil im Prozess, den die Zeugen Jehovas gegen die ehemalige Mitarbeiterin von Infosekta, Regina Spiess, angestrengt hatte. Die Sektenexpertin hatte in einem Interview und einer Medienmitteilung schwere Vorwürfe an die Adresse der Zeugen erhoben.

Darin kritisierte sie unter anderem die mangelhafte Aufklärung von sexuellen Übergriffen innerhalb der Glaubensgemeinschaft, die Zwei-Zeugen-Regel (Opfer müssen zwei Zeugen für den Missbrauch aufbringen) und die Ächtung von Ausgestossenen und Ausgestiegenen, selbst wenn sie noch minderjährig sind.

Sektenblog
AbonnierenAbonnieren

Die Zeugen Jehovas hatten Regina Spiess wegen übler Nachrede eingeklagt, sie verloren aber in allen Anklagepunkten vor dem Bezirksgericht Zürich. Das Urteil wurde im letzten Jahr rechtskräftig.

Scientology und die Zeugen Jehovas immer vorne dabei

Spannend im Jahresbericht ist speziell der Rückblick auf 30 Jahre Sektengeschichte. Er zeigt, wie radikal sich die Sektenlandschaft und die spirituellen Bedürfnisse der Gesellschaft in den drei Jahrzehnten verändert haben. Einzig Scientology und die Zeugen Jehovas blieben sich treu und zierten stets die unrühmliche Hitliste der Beratungsstelle. Bei ihr sind in dieser Zeit 49‘000 Anfragen eingegangen und Kontakte entstanden.

Wie sieht die Statistik der Beratungen im Jahr 2020 aus? Mit grossem Vorsprung führen die Zeugen Jehovas (18 %) die «Hitliste» an, gefolgt von den Scientologen (4 %). An dritter Stelle fungiert Daniel Eberle, der unter dem Geistnamen Shumbra als Channeling-Medium tätig war und heute KO-Kommunikation und Mentaltraining anbietet.

Ehemalige Kursteilnehmende und Familienangehörige berichteten laut Infosekte von grosser Abhängigkeit, schweren seelischen Krisen und Kontaktabbrüchen. Es folgen Anfragen zu QAnon (Verschwörungserzählung), die Freikirche ICF und die spirituelle Kirschblütengemeinschaft, die Drogentherapien durchführt.

Zahl der Beratungen steigt an

Die Zahl der Beratungen ist in den letzten fünf Jahren von knapp 2300 auf beinahe 3000 angestiegen. Dies ist ein Indiz, dass sich die Sektenlandschaft ausgeweitet hat – entgegen der landläufigen Meinung.

Insgesamt 47 % der Anfragen sind dem christlichen, 26 % dem esoterischen und 22 % dem weltanschaulichen oder säkularen Umfeld zuzuordnen. Bei den Organisationen mit christlichem Hintergrund handelt es sich bei 42 % um evangelikale Gemeinden, bei 19 % um die Zeugen Jehovas und bei 39 % um andere christliche Gruppen.

Die Hunderten von Sekten sorgen dafür, dass Infosekta die Arbeit nicht ausgeht. Leider.

Sektenblog

Alle Storys anzeigen
Hugo Stamm, Sektenblog
Bild: zvg
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

Du kannst Hugo Stamm auf Facebook und auf Twitter folgen.
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Diese Verschwörungstheorien sind wirklich wahr. So wirklich wirklich. Wirklich.
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
180 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
HereComesTheSun
05.06.2021 09:19registriert Dezember 2020
«Mit der COVID-Impfung wird ein Mikrochip injiziert, um die Menschen zu überwachen».

Himmelherrgottnocheinmal, dann sollen sie sich doch ein paar Impfdosen besorgen und diesen Chip nachweisen.
Müsste doch machbar sein, oder verstehe ich da etwas falsch...
1357
Melden
Zum Kommentar
avatar
HeidiW
05.06.2021 08:43registriert Juni 2018
3000 Anrufe pro Jahr erscheint wenig zu sein. Es wird jedoch nur die Dpitze des Eisberges sein. Wieviele Angehörige trauen sich nicht anzurufen, schämen sich über diese Situation zu sprechen oder glauben, dass alleine in den Griff zu bekommen.
Meine Hoffnung, dass sich die Menschheit irgendwann von Religionen, falscher Spiritualität oder Verschwörungstheorien lösen können hat sich in einer tiefen Höhle versteckt.
759
Melden
Zum Kommentar
avatar
Jo Kaj
05.06.2021 08:51registriert Juli 2019
Danke Hugo. Auch wenn du oft urteilende Worte gebrauchst: Mit den sachlichen Argumenten erklärst du stets die Hintergründe. Dieses Thema scheint vielen weniger interessant zu sein. Wie du aber selbst schreibst: Wir Menschen "erfinden" halt Wörter/Sachen, an welche alle glauben, und so sind wir unweigerlich empänglich auch für Irrglauben, ob man sich das nun eingestehen will oder nicht, es liegt in der Natur des Menschen. Die kritische Beleuchtung trägt einen guten Teil dazu bei, diese sich enfaltende Quacksalberei einzudämmen. Danke für deinen Beitrag der Aufklärung!
487
Melden
Zum Kommentar
180
Jetzt scheint auch in den letzten Schweizer Käffern wieder die Sonne
Im Flachland kennen wir es ja zur Genüge: Immer scheint die Sonne nicht. Aber in der Schweiz gibt es diverse Ortschaften, welche tatsächlich wochenlang im Schatten liegen. Am 26. Februar kommt das letzte Kaff auch wieder ans Licht.

Unten grau, oben blau. Wir kennen den kleinen Reim. Oben in den Bergen, dort scheint auch im Winter gefühlt immer die Sonne. Aber Berge haben hauch einen Nachteil. Zumindest für alle, die in deren Schatten im Tal leben.

Zur Story