Es ist ein Heer von Touristen und Migranten aus aller Welt, die Palermo zu einem einzigartigen Schmelztiegel gemacht haben. Bürgermeister Leoluca Orlando, der mit nunmehr zwei Leibwächtern (statt mit zwölf, wie zu Zeiten der Herrschaft der Mafia) an diesem Oktobermorgen zu Fuss auf der Strasse Maqueda unterwegs ist, sagt hinsichtlich dieser Menschenmenge: «Wir sind heute nach Venedig, Florenz und Rom die Stadt mit den meisten Touristen in Italien. Die Menschen fühlen sich heute sicher hier.»
Wer die Stadt noch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt hat, kommt aus dem Staunen über die friedlich-freudige Atmosphäre in Palermo nicht mehr heraus. Damals war hier noch Toto Riina und die «Cosa nostra» am Ruder, 1993 wurden die Richter und Mafiajäger Falcone und Borselino mit ihren Leibwächtern kaltblütig ermordet, es gab bis zu 400 Mafiatote pro Jahr, Bürgermeister Orlando bewegte sich als «wandelnde Leiche» von Ort zu Ort, tagsüber verstopften Autos die Innenstadt und am Abend waren alle Läden und Lokale in der Stadt ab 20 Uhr verriegelt.
Bereits 1980 wurde Piersanti Mattarella, der Bruder des heutigen Staatspräsidenten von Italien, von der Mafia getötet. Er war Präsident der Region Sizilien und wurde von dem damals 33-jährigen Juristen Orlando beraten. Der heutige Bürgermeister stammte aus der sogenannten intellektuellen Elite der Stadt, seine Mutter war eine Adelige, und er wurde von allen Seiten bekniet, das Erbe von Mattarella anzutreten und in die Politik zu gehen. Und so wurde Orlando 1985 zum ersten Mal auf der Liste der damaligen Democrazia Cristiana zum Sindaco von Palermo gewählt. Er knüpfte sofort ein Bündnis mit der Linken und der Kampf gegen die Mafia begann.
Orlando kündigte nach und nach alle Verträge mit Unternehmen in der Stadt, die von der Mafia infiltriert waren, gründete eine eigene Partei (Rete), die vor allem von Frauen unterstützt wurde, und bis heute sind nach und nach rund 4000 Mitglieder der «Cosche» verhaftet worden. Der Sindaco, der einmal selber zuoberst auf der Abschussliste der Mafia stand, erklärt: «Ich wäre ein Mitglied der Mafia, wenn ich sagen würde, die Mafia ist tot.» Der entscheidende Unterschied zu früher bestehe aber darin, dass Palermo heute nicht mehr von der Mafia regiert werde. «Die Mafiosi tragen heute Anzüge und Krawatten und sitzen in den Finanzzentren von Mailand, Frankfurt, London und New York.»
Wir sitzen mit anderen Journalisten in einem wunderschönen Saal des Palazzo Mazzarino und alle wollen neuerdings von Orlando wissen, ob er sich angesichts der Flüchtlingsproblematik in Europa jetzt als eine Art Anti-Salvini sieht, der die Flüchtlinge in den letzten Monaten und Jahren in seiner Stadt herzlich begrüsst und willkommen geheissen hat.
Da wird der Bürgermeister sofort zum «Orlando furioso» und hebt zu einer feurigen Ansprache an: «2017, als ich zum fünften Mal mit über 70 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Palermo gewählt wurde, und seither Leoluca der Fünfte genannt werde, hatte ich bereits diese Kultur der accoglienza, des Willkommens, vertreten. Eine Million Palermitaner steht bis heute hinter mir.»
Den Nazi-Führern sei in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg der Prozess gemacht worden, weil sie Millionen von Juden vergast haben. «Es könnte sein, dass den heutigen Scharfmachern wie den Herren Salvini, Orban und Kurz wegen des Genozids im Mittelmeer eines Tages das Gleiche drohen könnte», prophezeit Orlando.
Die Schliessung der Mittelmeerroute und der Aussengrenzen Europas bezeichnet er als eine menschliche Katastrophe. Als Gegengewicht hat er auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 eine Charta für Palermo ausgearbeitet, in der festgehalten ist, dass jeder Mensch, der nach Palermo kommt, automatisch ein Palermitaner ist. «Ich kämpfe seit Jahren für die Abschaffung der Aufenthaltsbewilligung in Italien. Jeder und jede, die sich zu uns gerettet hat, soll ein natürliches Bleiberecht erhalten.» Klar könne Palermo, Sizilien, Italien nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. «Aber in Europa hat es doch noch Platz für mindestens zehn Millionen neue Menschen, die alle neue Impulse und neue Ideen mit sich bringen», ereifert sich Orlando.
Der Mann, der seit bald vierzig Jahren das Schicksal von Palermo massgebend geprägt hat, wehrt sich vehement dagegen, als naiver Idealist abgetan zu werden. Mit seiner Politik und seinem Beharren auf die Menschenrechte, habe er bewiesen, dass sich in den Köpfen der Menschen nach und nach etwas Entscheidendes verändert. «Alle Menschen sind gleich, alle Menschen sind Teil der Natur, und niemand hat ein Recht, sich über den anderen zu erheben. Die Armut bekämpft man nicht mit Tweets und Schnellschüssen und Parolen wie ‹Italiener zuerst›. Armut und Elend bekämpft man mit stetem Beharren auf sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen, ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe.»
Und was sagt Orlando zu den massiven Gewinnen der Fünf-Sterne-Bewegung, vor allem in Süditalien und in Sizilien? Er sei seit vielen Jahren parteilos und wolle keiner Partei, sondern nur seinem Gewissen Rechenschaft ablegen. Schwache Menschen würden sich durch Schlagworte leicht den Kopf verdrehen lassen. Erfolge erziele man aber nur mit Schweiss, Tränen und jahrelanger harter Arbeit. «Die Fünf-Sterne-Bewegung wollten und wollen mich in Palermo weghaben, aber bis jetzt ohne Erfolg. Die Palermitaner vertrauen mir und meiner menschlichen Politik, die aus Palermo zugleich eine aufregende und äussert sichere Stadt gemacht hat.»
Wie man einen planetarischen Garten erschafft, Koexistenz lebt, und eine Stadt erneuert – das wollte auch die Kunstbiennale Manifesta 12, die noch bis Anfang November das weltoffene Palermo zeigen. Leoluca Orlando sagt: «Wir sind 2018 Kulturhauptstadt Italiens. Die Manifesta 12 passt mit grossem Erfolg in mein ständiges Konzept, die Kultur zu fördern und die mit an alten, unendlich reichen Schätzen gesegnete Stadt, mit Gegenwartskunst zu ergänzen.»
Die Präsidentin der Kulturkommission Palermos stammt bezeichnenderweise aus Kap Verde, der Vize-Präsident aus Bangladesh. Sie haben mitgeholfen, die über die ganze Stadt verteilte Ausstellung, zu kreieren. Mit der Manifesta 12 wurde in Palermo auch bleibender Wert geschaffen, indem alte Paläste wiedereröffnet und ganze Quartiere und Gärten erneuert wurden. So schüttete beispielsweise die holländische Künstlerin Patricia Kaersenhout im Palazzo Forcella De Seta einen grossen Salzberg auf. Mit diesem symbolischen Akt sollte an die Sklaven in der Karibik erinnert werden, die auf das Salzen ihrer Speisen verzichteten, in der Hoffnung, so leichter nach Afrika zurückfliegen zu können.
Migrationsströme, Völkerwanderungen habe es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Die Erneuerungskraft entstehe durch Durchmischung, sagt Orlando: «Die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit sind Grundrechte jedes Menschen. Angst vor Neuem zu schüren, auf dem Alten zu beharren, ist das Rezept der rechten Populisten.»
Und hier kommt Orlando auch kurz auf den Islam zu sprechen: «Wenn ein Extremist nach Palermo kommt, erhalte ich am nächsten Tag den Telefonanruf eines befreundeten Muslimen.» Diese Information, die auf Vertrauen basiert, leite er sofort an die Polizei weiter. «Und so bleibt unsere Stadt sicher.»
Palermo hat eine bekannte Schutzheilige namens Rosalia, welche die Stadt einst vor der Pest bewahrt hat. Abschliessend verrät der 71-jährige Bürgermeister, der noch bis 2022 weitermachen will, augenzwinkernd: «Palermo hat noch einen zweiten Schutzheiligen – San Benedetto, «il moro», der vor vierhundert Jahren als Sohn von schwarzen Sklaven nach Sizilien gekommen ist. Er ist mir fast lieber als die heilige Rosalia, und ich bin stolz darauf, dass auch ein Schwarzer unsere Stadt beschützt.»