Das neue Buch des ehemaligen Bundesrats Joseph Deiss heisst «Quand un cachalot vient de tribord ...». Der einstige Aussen- und Wirtschaftsminister nimmt damit eine Aussage des Seefahrers Olivier de Kersauson auf, die auf Deutsch übersetzt lautet: Kommt ein Pottwal von Steuerbord, hat er Vortritt. Kommt er von Backbord, auch.
In Ihrem Buch sagen Sie: Wenn die Schweiz eigenständig bleiben will, muss sie der EU beitreten. Wollen Sie provozieren?
Joseph Deiss: Das ist das erste Mal, dass mich ein Journalist als provokativ einstuft. Ich sage es aber nicht so, sondern: «Der EU-Beitritt wäre ein Gewinn an Souveränität.» In Brüssel werden laufend Beschlüsse gefällt, die, ob wir es wollen oder nicht, die Schweiz tangieren. Wir können nur darauf Einfluss nehmen, wenn wir auch mit dabei sind und mitentscheiden.
Sie schreiben, das EWR-Nein sei ein «historischer Irrtum des Schweizer Volkes» gewesen.
Wir haben damals ein Angebot der EU abgeschlagen, welches wir nie mehr so günstig bekommen werden. Viele der heute anstehenden Probleme wären seit langem gelöst. Wir wären wenigstens dort angelangt, wo sich unser Nachbar Liechtenstein längstens befindet. Die Beitrittsfrage bliebe jedoch offen.
Kaum ein Politiker wagt es, das Wort EU-Beitritt noch in den Mund zu nehmen. Erhalten Sie böse Briefe?
Ich sage das aus nüchterner Überzeugung. Bis jetzt hat man mich aber ziemlich in Ruhe gelassen. Das Buch ist Französisch und in der deutschen Schweiz hat man es wohl noch nicht wahrgenommen.
Durch die Nichtteilnahme an der EU habe die Schweiz freiwillig eine Souveränität abgegeben, schreiben Sie auch. Ist die Schweiz heute nicht souverän?
Natürlich ist sie souverän. Und würde es auch nach einem Beitritt bleiben. Aber in der Gestaltung unserer Beziehungen mit unserem weitaus wichtigsten Partner hinken wir ständig hinterher. Vieles müssen wir wohl oder übel übernehmen oder erdulden, wenn die Suppe bereits gekocht ist. Auch beim UNO-Beitritt bestanden solche Bedenken. In Tat und Wahrheit hat dieser Schritt unserer Aussenpolitik aber weite neue Felder erschlossen und sich entgegen allen Behauptungen als Souveränitätsgewinn herausgestellt.
Ein EU-Befürworter wie Sie würde heute kaum mehr Bundesrat. Was ist passiert in den letzten 20 Jahren?
Ich wäre da nicht so pessimistisch wie Sie. Ich will aber beifügen, dass ich mich während meiner Amtszeit stets redlich und engagiert für die bilateralen Verträge starkgemacht habe. Ich bin übrigens der einzige, der im Namen des Bundesrates alle Verträge der Bilateralen I und II unterschreiben durfte. Ich bin sehr stolz darauf, denn dieses Vertragswerk hat es der Schweiz erlaubt, sich ab dem Jahr 2000 aus der nach dem EWR-Nein entstandenen Flaute wieder auf den Wachstumspfad zu begeben.
Da sagen die EWR-Gegner aber etwas anderes.
Die von den Gegnern prophezeiten Nachteile sind ausgeblieben: zum Beispiel fast 20 Jahre Freizügigkeit mit der EU und kein Jota mehr an Arbeitslosigkeit, geschweige denn Lohndruck. Diese Abkommen stellen heute das Machbare, aber auch das Unabdingbare dar. Wir müssen alles unternehmen, um sie aufrechtzuerhalten. Denn wer ständig die Nase rümpft, wird am Ende nicht mehr eingeladen.
Der EU-Beitritt ist bei Bundesrat und Parteien heute ein Tabu. Was halten Sie von dieser Strategie?
Wenn ein Land seine vitalen Herausforderungen in politische Tabus verwandelt, ist Stillstand garantiert. Die Frage der Zusammenarbeit der europäischen Staaten, die Schweiz inbegriffen, ist für die Zukunft unseres Kontinents in Anbetracht der wachsenden Rivalitäten aus Amerika, Russland, China und Asien allgemein sowie künftig auch aus Afrika von existenzieller Wichtigkeit. Nur ein europäischer Schulterschluss wird unseren Kontinent zu diesem Machtkampf befähigen.
Sind unsere Politiker mutlos oder waren Sie zu draufgängerisch?
Leider hat die stete Verteufelung der EU dazu geführt, dass unser natürliches Teilhaben am Geschehen auf unserem Kontinent zum Crash-Szenario degradiert worden ist. Ich betrachte es nicht als Draufgängertum, für sein Land die beste Variante zu empfehlen.
Sie schreiben, manchmal, wenn der Druck aus dem Ausland gross sei, dann gehe es schnell, wie beim Bankgeheimnis. Passiert das Gleiche mit dem EU-Beitritt?
Das ist nun etwas zu frei übersetzt. Ich frage Sie aber, wie souverän sah die Schweiz aus, als sie mit Amerika oder Europa den Informationsaustausch einführte? Und es gäbe da noch weitere Beispiele. Etwa das Fiasko in den Bereichen Erasmus oder der Forschungszusammenarbeit mit der EU.
Sie werfen der EU aber auch vor, sie streite sich, verfalle in Nationalismus und Populismus, verliere Boden an die USA, Russland, China, bald auch Afrika. Geht Europa unter?
Untergehen sicher nicht. Aber stagnieren schon. In mehr als einem Dutzend EU-Mitgliedstaaten ist heute die Bevölkerungszahl, trotz Migration, rückläufig. Ungarn zum Beispiel ist von über 10.5 Millionen auf 9.8 Millionen geschrumpft. Aber ich werfe der EU auch vor, die Schweiz unfair zu behandeln und unsere heutigen grossen Beiträge an das Wohl Europas kleinzureden. Ich denke an den satten Überschuss der Handelsbilanz der EU mit der Schweiz, die monumentalen Alpentransversalen oder die Tatsache, dass im Rahmen der Freizügigkeit, unser Land – 1.5 Prozent der Bevölkerung Europas – etwa 10 Prozent der gesamten EU-intern wandernden Arbeitskräfte übernimmt.
Der Bundesrat setzt, so scheint es, auf Freihandel mit der ganzen Welt. Ist das denn falsch?
Nein, im Gegenteil. Das entspricht ja der Aussenhandelsstrategie, welche ich anno 2004 erstmalig dem Bundesrat, und dieser dem Parlament, im Rahmen des Aussenhandelsberichts, vorgelegt habe: Erste Priorität: weltweite Liberalisierung im Rahmen der WTO. Zweite Priorität: binnenmarktnahe Bedingungen in den Wirtschaftsbeziehungen mit den EU-Staaten. Drittens: bilaterale Freihandelsabkommen mit ausgewählten Drittstaaten wie Japan, China usw.
Dann ist ja alles bestens?
Leider muss man beifügen, dass die erst platzierte Massnahme im Rahmen der festgefahrenen Doha-Runde und dem Rückfall Präsident Trumps in den Zolltarifkrieg des 19. Jahrhunderts sehr schwierig zu verwirklichen ist. Somit sind die Prioritäten zwei und drei von grösster Bedeutung. Damit sind wir wieder beim EU-Beitritt.
Zum Schluss: Was wollen Sie uns eigentlich mit dem Pottwal-Bild sagen?
Jeder Einzelne und jedes Volk muss lernen, mit dem Unabwendbaren umzugehen.
Bis vor Kurzem war ich Akkordmaurer mit eigener Firma. In 15 Jahren sind die Preise um 20% eingebrochen. Teuerungsbereinigt sind das über 30%!
Früher hat man für die Schinderei noch gute 7 bis 8 Tausend verdient - vorbei. Heute sollen Ausländer für einen Durchschnittslohn krüppeln gehen, damit unsere Kinder alle schön studieren können.
Schöne neue 2-Klassen-Schweiz.