Die vorläufige Endstation seiner Odyssee erreicht Osman Erdal am 9. Oktober: Er reist mit dem Flugzeug aus dem nordirakischen Erbil via Johannesburg nach Zürich-Kloten und stellt ein Asylgesuch. Seither lebt er in der Asylunterkunft im Transitbereich des Flughafens.
Trotz der grossen medialen Aufmerksamkeit, welche die watson-Recherche zu den kurdischen Flüchtlingen im Transit ausgelöst hat, hielt sich Erdal bisher mit seiner Geschichte zurück. Jetzt bricht er sein Schweigen. Via WhatsApp schreibt er: «Ich habe Angst, dass mich der türkische Geheimdienst in Südafrika entführt oder gar ermordet.» Oder dass er von dort in die Türkei abgeschoben werde.
Letzte Woche hat das Bundesverwaltungsgericht Erdals Beschwerde gegen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM), nicht auf sein Asylgesuch einzutreten, abgewiesen. Die Begründung: Südafrika sei ein sicheres Drittland mit einem «funktionierenden Rechtssystem» und «schutzfähigen und schutzwilligen Behörden». Der Entscheid des SEM sei deshalb rechtskonform gewesen, heisst es im Urteil, das watson vorliegt.
Beat Gerber von Amnesty International Schweiz kritisiert das Urteil scharf. Es gebe Hinweise auf eine «äusserst mangelhafte Qualität der Asylgesuchsprüfung» in Südafrika. Die Ablehnungsquote betrage rund 96 Prozent. Asylsuchende müssten so mit einem negativen Entscheid rechnen. Schlecht sieht es für Personen ohne gültige Papiere aus – wie Osman Erdal, dem die Türkei die Staatsbürgerschaft aberkannte. Sie riskierten, nicht ins Asylverfahren zugelassen, verhaftet und in ihren Herkunftsstaat ausgeschafft zu werden.
Wird Erdal von Südafrika in die Türkei abgeschoben, droht ihm lebenslange Haft. Denn der Kurde ist ein prominentes früheres Mitglied der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Er lässt watson ein Foto zukommen, das ihn zusammen mit Abdullah Öcalan zeigt, dem Anführer der PKK. Öcalan sitzt seit seiner Gefangennahme 1999 in türkischer Haft. Die Aufnahme von Osman Erdal und Öcalan sei im Jahr 1998 in Nordsyrien entstanden.
Zu diesem Zeitpunkt war Erdal laut eigenen Angaben schon zwanzig Jahre PKK-Mitglied. Er sei der Partei bereits kurz nach ihrer Gründung Ende der 1970er Jahre beigetreten. Die Türkei, die EU und die USA betrachten die PKK als Terrororganisation, die Schweiz tut dies nicht. Zwischen 1980 und 1990 sass Erdal wegen seiner PKK-Mitgliedschaft in türkischen Gefängnissen, davon fünf Jahre im berüchtigten Foltergefängnis von Diyarbakir.
Nach seiner Freilassung 1990 habe er die Türkei verlassen und sich nach einem Aufenthalt in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien in den Kandil-Bergen im Nordirak niedergelassen. Dorthin zog sich die PKK-Führung Ende der 1990er Jahren zurück. Er erklärt watson, er sei für die PKK als «diplomatischer Vertreter» und «Ausbildner» tätig gewesen. 2008 taucht sein Name auf einer türkischen Liste mit den meistgesuchten PKK-Kadern auf, deren Auslieferung die Türkei von der irakischen Zentralregierung verlangt.
2003 sei er aus politischen Gründen aus der PKK ausgetreten, erzählt Erdal. Er habe sich gegen eine Fortsetzung des bewaffneten Kampfs ausgesprochen und sei in die nordirakische Kurdenmetropole Erbil gezogen. Dort habe er sich weiterhin politisch engagiert. Doch in jüngster Vergangenheit sei er dort nicht mehr sicher gewesen, weshalb er in die Schweiz geflohen sei. Der türkische Geheimdienst sei in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak immer aktiver geworden: «Ich habe Angst um mein Leben.»
Weil der internationale Reputationsschaden im Falle einer türkischen Geheimdienstaktion auf Schweizer Boden zu gross wäre, hält Erdal die Schweiz für ein sicheres Aufenthaltsland. In Südafrika hingegen schliesse er eine Entführung oder einen Mordanschlag nicht aus.
Für Amnesty-Sprecher Beat Gerber ist der Versuch des SEM, Erdal und die anderen am Flughafen Zürich gestrandeten Kurden im Schnellverfahren nach Südafrika auszuschaffen, «äusserst problematisch». Amnesty International verlangt eine sorgfältige Prüfung: «Die Schweiz muss sicherstellen, dass ihnen bei einer Abschiebung nach Südafrika keine Rückschaffung in die Türkei oder den Irak droht.» Man habe in dieser Sache bei SEM-Direktor Mario Gattiker interveniert. Dessen Antwort ist noch nicht bekannt.
Osman Erdals juristische Vertreterin Nesrin Ulu verweist zusätzlich auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 2018, in dem es die Beschwerde eines asylsuchenden Ehepaars aus Mosambik guthiess. Das Paar hatte sich gegen eine Wegweisung durch das SEM nach Südafrika gewehrt. Es gebe «deutliche Hinweise» darauf, dass Südafrika «in der Vergangenheit das Non-Refoulement-Gebot verletzt hat», schrieb das Gericht in der Urteilsbegründung. Es gebe auch Hinweise auf aktuelle Deportationen von Asylsuchenden oder Flüchtlingen, die ihren Aufenthaltsstatus verlängern wollten.
Ohne auf den Einzelfall von Osman Erdal einzugehen, verteidigt SEM-Sprecher Daniel Bach Rückweisungen nach Südafrika. Das SEM habe die Situation im Land mit Unterstützung der Schweizer Botschaft in Pretoria vor kurzem analysiert.
Das Ergebnis: Südafrika sei ein demokratischer Rechtsstaat und habe die Flüchtlingskonvention ratifiziert. Der Zugang zum Asylverfahren an den Flughäfen sei gewährleistet: «Wir haben keine Kenntnis von konkreten Fällen, in denen dieser Zugang verwehrt worden ist.»
Es gebe ausserdem keine Hinweise auf Verletzung des Non-Refoulement-Gebots: Es sei kein Fall bekannt, bei dem jemand in ein anderes Land ausgewiesen worden wäre, in dem ihm oder ihr Folter, unmenschliche Behandlung oder andere Menschenrechtsverletzungen drohten.