China ist definitiv zum neuen Feindbild der Amerikaner geworden. Donald Trump hat zwar zu Beginn seiner Amtszeit ein Stück «wunderbare Schokoladentorte» mit seinem Amtskollegen Xi Jinping in Mar-a-Lago verspeist. Danach ging es jedoch rasant bergab.
Am Ende seiner Amtszeit machte Trump China nicht nur für die Coronakrise verantwortlich, sondern für praktisch alles Übel der Welt. Heute polemisiert Fox News täglich gegen die Chinesen und stellt das Reich der Mitte – wie einst die UdSSR – als unmittelbare Gefahr für die Vereinigten Staaten dar.
Nicht nur die Konservativen warnen vor China. Die Europatournee von Präsident Joe Biden hatte letztlich zum Ziel, die westlichen Alliierten im Kampf gegen China hinter sich zu scharen.
China seinerseits mischt bei diesem Spiel kräftig mit. Unter der Führung von Präsident Xi hat das Reich der Mitte in den letzten Jahren einen markanten Wandel vollzogen. Die kommunistische Partei Chinas ist mit einer umfassenden Anti-Korruptions-Aktion gesäubert worden. Das Militär wird massiv aufgerüstet, die Bevölkerung wird konsequent überwacht. Uiguren werden in Umerziehungslager deportiert, aufmüpfige Bewohner von Hongkong ins Gefängnis gesteckt.
In den 1980er-Jahren hatte der legendäre Reformer Deng Xiaoping seinen Landsleuten zur Bescheidenheit auf der internationalen Bühne geraten. Heute tut Präsident Xi das Gegenteil. Man zeigt, was man hat. Mit der sogenannten «Belt and Road»-Initiative hat China ein globales Entwicklungsprogramm auf die Beine gestellt und seinen geopolitischen Einfluss massiv erhöht.
An den chinesischen Kaiserhof pilgerten einst Gesandte aus aller Welt, um ihren Tribut zu entrichten. Nun sieht sich China auf dem Weg, den Glanz des alten Reichs der Mitte wieder zurückzugewinnen. Die USA hingegen haben in den Augen von Peking ihre besten Tage hinter sich und sind zu einer Supermacht im Niedergang geworden.
«Diese Sicht hat sich in Peking festgesetzt, als die amerikanischen Kriege in Afghanistan und dem Irak im Schlamassel versanken», stellt Jude Blanchette im Magazin «Foreign Affairs» fest. «Die Finanzkrise von 2008 hat sie bestätigt. Für die chinesische Führung hat sie das Ende des Prestiges der USA eingeläutet.»
Angesichts dieser Entwicklung ist es unvermeidlich geworden, dass Polit-Experten von einem neuen Kalten Krieg zwischen den USA und China sprechen. Die Parallele zum jahrzehntelangen Ringen zwischen Amerikanern und Russen um die Weltherrschaft scheint offensichtlich zu sein. Einer, der diese Sicht nicht teilt, ist Bernie Sanders. Ebenfalls in «Foreign Affairs» warnt er vor dieser Ansicht:
Dabei ist Sanders bezüglich China alles andere als eine Friedenstaube. Er war es, der schon vor mehr als 20 Jahren davor gewarnt hat, die Handelsschranken mit China fallen zu lassen. «Ich wusste schon damals, dass es zu einem massiven Verlust von gut bezahlten Jobs in den USA führen würde, wenn man den amerikanischen Unternehmen erlaubt, ihre Fabriken nach China zu verlagern», so Sanders.
Der Senator aus dem Bundesstaat Vermont will auch keineswegs die antidemokratischen Züge Chinas verharmlosen. «Die Biden-Regierung hat zu Recht erkannt, dass der sich verstärkende Zug hin zu einem autoritären Regime eine bedeutende Gefahr für die Demokratie geworden ist», stellt Sanders fest.
Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Amerikaner zuerst vor der eigenen Tür den Dreck wegkehren müssen. Denn: «Der primäre Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus findet nicht zwischen Ländern statt, sondern innerhalb der Länder – das gilt auch für die Vereinigten Staaten.»
Tatsächlich ist vieles faul im Staate Amerika. In fast allen republikanisch regierten Bundesstaaten werden zur Zeit Gesetze erlassen, welche die Wahlfreiheit vor allem der Armen und der Schwarzen einschränken. Deshalb wollen die Demokraten ein nationales Gesetz verabschieden, welches gewisse Mindeststandards landesweit sichert. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass sie damit Erfolg haben werden.
Auch in anderen Bereichen läuft einiges in die falsche Richtung. So können rund ein Fünftel aller 15-jährigen Amerikaner kaum lesen. In der Hitliste punkto Wettbewerbsfähigkeit des Instituts IMD haben die USA lange traditionell den ersten Platz belegt. Inzwischen sind sie auf Rang 10 abgerutscht. (Den ersten Platz belegt derzeit übrigens die Schweiz.)
«Wie ich es sehe, besteht die derzeit grösste Gefahr für Amerikas Zukunft weder im Aufstieg Chinas noch in einem Schurkenstaat Russland», stellt Nicholas Kristof in der «New York Times» fest. «Es ist vielmehr unser Versagen an der Heimatfront.»
Zum gleichen Schluss gelangt auch Sanders. Er plädiert für eine Revitalisierung der amerikanischen Demokratie und für einen Green New Deal, mit dem Millionen gut bezahlte Jobs geschaffen werden und mit dem die Klimaerwärmung wirksam bekämpft werden kann. Ebenso soll endlich das Gesundheitssystem reformiert und die Infrastruktur auf den neuesten Stand gebracht werden.
Sich in einen neuen Kalten Krieg zu stürzen ist für Sanders nicht nur dumm, sondern kontraproduktiv. «Ich befürchte, dass eine neue Konfrontation mit China nicht nur diese Ziele infrage stellt. Auf diese Weise werden die autoritären ultranationalistischen Kräfte in beiden Ländern verstärkt», so Biden. «Das alles wird uns von den gemeinsamen Interessen der beiden Länder ablenken, von den wirklich existenziellen Bedrohungen wie der Klimaerwärmung, Pandemien und der Gefahr einer nuklearen Zerstörung der Welt.»
Wollen wir unsere liberalen Gesellschaften verteidigen, müssen wir diese wirtschaftlichen Perspektiven ebenfalls anbieten können. Das heisst, das breitere Schichten an der Produktivitätssteigerung der letzten Jahre teilhaben können.
Hut ab vor ihm...