Siebzig Jahre Reinhold Messner – wie haben Sie das überlebt? Reinhold Messner: Das frage ich mich selber (schmunzelt). Natürlich waren ein paar Fähigkeiten dazu notwendig: Vorsicht ist eine davon, gepaart mit Glück. Ich bin generell ein Mensch, der mehr seinen Instinkten traut als dem Intellekt.
Das erstaunt. Immerhin halten Sie sich nicht zurück, wenn es darum geht, auch Debatten zu führen, die über den Alpinismus hinausgehen.
Dort hilft der Intellekt. Aber wenn Sie sich am Berg in einer gefährlichen Situation wiederfinden und Ihr Intellekt zu berechnen beginnt, wie Sie dieser Situation entrinnen können, dann sind Sie zu langsam. Der Bauch ist schneller als der Verstand.
Ist es schwierig, in lebensbedrohenden Situationen den Verstand auszuschalten?
Der Verstand ist eine korrigierende Grösse. Das Animalische in uns ist viel tiefer angelegt als der Intellekt. Die Zeitspanne, seit der wir Menschen unseren Intellekt nutzen, ist relativ kurz.
Worin äussert sich das animalische Moment bei Ihnen? In Todesangst?
Nein. Die Ängste sind im Vorfeld da. Sie helfen, nur solche Herausforderungen anzunehmen, denen wir auch gewachsen sind. Mut und Angst sind zwei unteilbare Hälften, wobei der Mut Sie dazu bringt, Herausforderungen in Angriff zu nehmen.
Kennt ein Mann wie Sie überhaupt so etwas wie Todesangst?
Todesangst ist nicht unbedingt eine Erfahrung, die ich gemacht habe. Die paar Mal, die ich dem Tod sehr nah war, erlebte ich anders. Das Sterben war wie eine unabdingbare Folge dessen, was passiert war. Ich bin überzeugt, dass wir uns im letzten Moment in den Tod fallen lassen und uns vom Leben lösen. Aber erst, wenn wir keine Chance mehr sehen, es zu retten. Denn der Selbsterhaltungstrieb ist der stärkste Trieb, den wir Menschen haben. Er lässt uns alles tun, dass wir und unsere engsten Gefährten am Leben bleiben.
Sie setzten Ihr Leben mehrmals aufs Spiel. Sind Sie todesmutig? Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Ich bin ein eher ängstlicher Mensch. Todesmutige Bergsteiger leben keine paar Wochen. Vorsicht ist eine wesentliche Tugend eines guten Bergsteigers.
Beschäftigt Sie das Älterwerden?
Ich begann, mich mit 40 zum ersten Mal damit auseinanderzusetzen. Zuvor hatte ich nie in die Altersvorsorge investiert. Das tat ich auch mit 40 nicht. Statt Rentenpapiere kaufte ich mir Bauernbetriebe, die ich Pächtern weitergab. Die Idee: Ich könnte mich mit meiner Familie jederzeit auf diese Höfe zurückziehen und autark leben. Ich betreibe Selbstversorgerbetriebe.
Was werden Sie tun, wenn Sie erkranken, zum Beispiel an Demenz?
Es wäre für mich schwer zu ertragen, abhängig zu sein und nicht mehr gestalten und Ideen umsetzen zu können. Auch wenn das keine abenteuerliche Expeditionen mehr sind, die ich nunmehr unternehme. Heute bin ich ja mehr ein kulturell tätiger Mensch denn Sportler. Es geht aber immer noch ums Gleiche in meinem Leben: Nichts unversucht lassen.
Wie wichtig ist Kreativität?
Sie steht am Beginn. Es geht darum, Ideen auch umzusetzen. Ein gelingendes Leben führen heisst Ideen eins zu eins umsetzen. Auch wenn es Jahre dauern kann. Es ist nicht dasselbe, wie auf ein gelungenes Leben zurückzublicken.
Besucht man Ihr Museum, so hat man das Gefühl, einem König die Ehre zu erweisen. Damit haben Sie sich ein Denkmal erschaffen. Ganz und gar nicht. «Firmian» ist ein monumentales Gebäude, das einst das Reich des Erbherzogs Sigmund repräsentieren sollte. Nur ist daraus nichts geworden, weil es dem Schiesspulver schlicht nicht standgehalten hätte. Der Herzog hat das Gebäude als Landesherr um 1480 verlassen. Seither war es dem Verfall preisgegeben. Mit meinem Museum konnte dieser Burg neues Leben eingehaucht werden. Hier erzähle ich aber nicht von mir, ich widme es der Bergkultur generell.
Und trotzdem: Ohne Ihren Namen kommt das Messner Mountain Museum nicht aus.
Messner ist eine Marke. Ohne hätte es nicht geklappt. Übrigens habe ich auch den Schweizern empfohlen, das Alpine Museum aus Bern wegzunehmen. Das funktioniert dort nicht so gut, wie es könnte.
Warum nicht?
Es hat mit dem Standort zu tun. Mit der kleinen Scheidegg am Fuss des Eigers hätte die Schweiz den perfekten Standort für ein solches Museum.
Die entsprechende Region ist aber von Touristen hoch frequentiert.
Nur wegen des Jungfraujochs. Die Fahrt dort hoch ist der grösste Hype im Alpenraum. Doch sehen Sie genauer hin: Touristen aus aller Welt besuchen das Jungfraujoch in Blitzgeschwindigkeit. Ausser der Jungfraubahn, die damit gutes Geld verdient, profitiert niemand wirklich. Denn diese Touristen sind ja am selben Abend schon wieder woanders. Mit einem Museum könnte man das Ganze entschleunigen. Tourismus wird erst dann erfolgreich, wenn der Verkehr zum Stillstand kommt. Solange die Touristen nur unterwegs sind, profitieren gerade einmal die Transportunternehmen.
Wenn man Sie so sprechen hört, dann sind Sie heute eigentlich vor allem eins: ein Touristiker.
Ja, das bin ich. Ich habe den Anspruch, nachhaltigen Alpen-Tourismus zu fördern.
Ein erstaunlicher Wandel: Früher suchten Sie das Wilde in der Natur. Nun bringen Sie mit Ihren Museen die Zivilisation just dorthin.
Eben nicht: Ich habe für meine Museen keinen Kubikmeter Landschaft verbaut. Sie befinden sind in alten Strukturen: Vier sind sogar in denkmalgeschützter Bausubstanz, zwei befinden sich unter der Erde. Nur die Naturlandschaft allein macht noch keine Bergkultur aus. Die Naturlandschaft soll so belassen werden, wie sie immer war. Wer sich hineinwagt, soll sich meinetwegen in Eigenverantwortung Gefahren aussetzen. Doch auch die Kulturlandschaft ist Teil der Berge. Sie sollten und dürfen wir nutzen, heute auch touristisch. Schützen und nützen geht bis zur Baumgrenze Hand in Hand.
Sie sagten einmal, das Glück des Bergsteigens hätten Sie jeweils erst zurück in der Zivilisation gefunden. Hauptsache überlebt – hätten Sie sich Ihren Kick auch ganz woanders holen können?
Was ich tat, hat mit Kick überhaupt nichts zu tun. Bungee-Jumping oder Downhill-Biking sind Kick-Sportarten. Diese gibt es seit etwa 20 Jahren. Das Bergsteigen ist ein nachhaltiges, ganz langsames Abenteuererlebnis.
Abenteuerreisen wurden doch längst Mainstream.
Vermarktbare Abenteuerreisen waren nie das, was ich suchte und tat. Meine Abenteuer hatten mit Konsum nichts zu tun. Die Rückkehr von der Gefahrenzone in die sichere Welt aber vergleiche ich gerne mit einer Wiedergeburt. Sehen Sie: Das Gipfelerlebnis ist letztlich nur ein Umdrehen. Der Gipfel ist wie die Mitte des Lebens: Es geht aufwärts, danach abwärts.
Den 70. feierten Sie mit Freunden auf einer Alp. Im Alpinismus spricht man von Kameradschaft. Brauchen Bergsteiger Freunde? Ja, klar.
Muss auch der Kletterpartner ein Freund sein?
Überhaupt nicht. Kletterpartner müssen sich in erster Linie gut ergänzen. Das sind oft Zweckgemeinschaften. Die «Bergkameradschaft» als Ideal hat ihre Wurzeln im Dritten Reich. Dabei ging es um heroische Taten und um das Postulat der Kameradschaft als Einsatz bis in den Tod. Die Nazi-Propaganda nutzte den Alpinismus geschickt, stellte die Bergkameraden als Idealbild des guten Soldaten hin.
Die Herausforderung suchten Sie im Alleingang. Ihre Ex-Frau sagte, sie kenne niemanden, der so sehr geliebt werden wolle und so wenig dafür tue wie Sie. Sind Sie beziehungsfähig?
Ich glaube, dass ich sehr wohl beziehungsfähig bin. Ich wuchs in einer Grossfamilie auf. Wenn ich hie und da als «einsamer Wolf» unterwegs war, dann war es nicht, weil ich andere nicht ertragen hätte oder mich andere nicht ertragen hätten. Ich bin mir sicher: Wer nicht fähig ist, auch allein schwierige Sachen zu meistern, ist anderen nicht zumutbar. Ich glaube, dass ich meiner Familie daheim weniger auf die Nerven gehe als andere Familienväter, die regelmässig um acht Uhr abends zu Hause sind.
Sie sind der grösste Abenteurer der Gegenwart. Gibt es noch Raum, Abenteuer zu begehen?
Jede Menge. Es ist nur ein Bruchteil von dem getan, was getan werden kann. Man muss sich nur abseits der grossen Touristen-Ströme bewegen. Am Mount Everest oder am Mont Blanc findet man Wildnis nicht mehr. Leider.
Worin liegt Ihre wichtigste Botschaft an die Menschen?
Ich habe keine.
Immerhin waren Sie für die Grünen im europäischen Parlament. Politiker sind von einer Bevölkerung eines gewissen Gebiets mandatiert, sie bestmöglich in die Zukunft zu führen, eine grosse Verantwortung.
Sie bezeichnen sich als Anarchisten, was nicht nur für Begeisterung sorgte.
In der Wildnis gilt: Keine Macht für niemand! Sonst bin ich von der indirekten Demokratie überzeugt. Direkte Demokratie mag in den kleinräumigen Einheiten der Schweiz funktionieren, bundesweit kommt sie an ihre Grenzen.
Also nicht mehr Demokratie für das grosse Europa?
Sehen Sie, Beppe Grillo will eine Art Basisdemokratie für Italien, bei der die Bürger abends zu diesem und jenem Ja oder Nein sagen. Ich prophezeie damit das komplette Chaos, weil ich ausserhalb des Tierreichs nicht an die Schwarmintelligenz glaube. Es gibt auch Schwarmdummheit.
Chaos ist Ihnen ein Graus?
Nicht in der Natur, dort suche ich es.
Gefunden haben Sie es in der Arktis. War es das perfekte Chaos? Ich weiss nicht, ob es das gibt. Aber die Arktis bietet wirklich Chaos pur. Da türmen sich Millionen von Eisschollen! Auf unserer Expedition war es besonders schlimm, weil sich dazwischen überall das Wasser auftat. Wir mussten weg. Ich wäre sonst längst tot.