Schweiz
So überwacht uns der Staat

Immer mehr Überwachung: Die Kantone rüsten die Polizeikorps auf

Immer mehr Überwachung: 6 Beispiele, wie die Kantone die Polizeikorps aufrüsten

Demos filmen, Autonummern scannen oder Droher registrieren: Schweizweit erhalten Polizei oder Zoll mehr Möglichkeiten, um Bürger zu überwachen. Strafrechtler sehen dies kritisch, weil Grundrechte eingeschränkt werden. Wir zeigen, wo die Polizei mehr Kompetenzen erhalten hat.
02.12.2020, 09:2102.12.2020, 13:33
lucien fluri / ch media
Mehr «Schweiz»

Die Demokratie steht jetzt nahe am Abgrund. Der Rechtsstaat dürfte demnächst in seinen Grundfesten erschüttert werden. Das muss befürchten, wer in den Kanton Solothurn blickt. Dort hat das Volk am Wochenende ein umstrittenes Polizeigesetz angenommen. Die eifrigsten Gegner hatten im Vorfeld für diesen Fall den totalitären Staat heraufbeschworen. Dabei erlaubt der Kanton seiner Polizei nur – und erst noch zurückhaltend, was in den meisten Kantonen bereits geschehen ist: Vom Aargau über Basel-Land bis nach Zug oder St. Gallen erhielten – oder erhalten derzeit – die Polizeikorps mehr Überwachungsmöglichkeiten.

Die Polizei nahm den 39-j
Die Polizei erhält mehr Möglichkeiten, um die Bevölkerung zu überwachen.Bild: sda

Es sind neue technische Möglichkeiten darunter, die zwar durch restriktive Datenschutzvorschriften stark eingeschränkt werden. Technisch aber würden sie eine umfassendere Überwachung erlauben, die Gegner an «Big Brother» erinnert. Betroffen ist die Versammlungsfreiheit ebenso wie die Privatsphäre (vgl. Beispiele unten).

Kritisch sieht die Entwicklung bei Bund und Kantonen Nadja Capus. Die Strafrechtsprofessorin an der Universität Neuenburg warnt:

«Es entsteht derzeit ein grosser Graubereich.»
Nadja Capus, Strafrechtsprofessorin
Nadja Capus bei Aeschbacher 2016
Capus 2016 in der Schweizersendung «Aeschbacher»srf

Da wäre etwa der Bereich Prävention. Als Strafrechtlerin sei sie sich gewohnt, dass eine Tat aufgearbeitet wird, nachdem sie geschehen sei, so Capus. Zunehmend aber werde die Polizei bereits zuvor aktiv. «Man versucht, die strafrechtliche Aufarbeitung auf die Zeit vor einer Tat auszuweiten, um damit eine Tat zu verhindern, von der man nicht weiss, ob sie eventuell passieren könnte», sagt die Juristin. Dabei wachse die Zahl der bei den Ermittlungen erhobenen Daten, während gleichzeitig die gerichtliche Kontrolle zurückgebunden werde.

Problematisch bei dem allem: Gleichzeitig ändert sich auch das Strafrecht. Es würden zunehmend bereits Verhaltensweisen vor einer Tat bestraft, sagt Capus. Und:

«Es wird schon derjenige bestraft, von dem man glaubt zu wissen, dass er daran denkt, eventuell eine Gewalttat zu begehen.»
Nadja Capus, Strafrechtsprofessorin

Es wird schon derjenige bestraft, von dem man glaubt zu wissen, dass er daran denkt, eventuell eine Gewalttat zu begehen.

Mit anderen Worten: «Im liberalen Staat war klar: Ich habe die Freiheit, mir vorzustellen, dass ich jemanden umbringe.» Diese Gewissheit falle. Der Bund habe beispielsweise im Rahmen der Anti-Terrorgesetzgebung Alltagshandlungen wie Reisen unter Strafe gestellt – sollte diese Reise mit einer bestimmten Absicht angetreten werden. «Man überprüft eine Gesinnung», so Capus.

Problematisch ist für die Strafrechtsprofessorin dabei: Beweisprobleme sind unvermeidlich. Das habe wiederum zur Folge, dass Überwachungsbegehrlichkeiten steigen. Und dies betreffe letztlich das Leben jeder Person, die reist, das Internet benutzt, bestimmte Gebäude besucht: Es komme zur Ungewissheit, ob diese Handlung schon ausreicht, um verdächtigt zu werden und damit Zwangsmassnahmen erdulden zu müssen. Capus befürchtet zudem, dass es künftig zu Justizskandalen kommen könnte:

«Die Konstellation von sehr vielen Informationen und zu wenig Personal führt zwangsläufig zu Fehlern.»
Nadja Capus, Strafrechtsprofessorin

Für die Juristin ist die Entwicklung insgesamt schwer erklärbar, sei es doch gerade der funktionierende Rechtsstaat, der das Land äusserst stabil und sicher mache.

Viel weiter als die Kantone gehen zudem Gesetzesänderungen beim Bund. Im Anti-Terrorismusgesetz hat das Parlament kürzlich – entgegen der Warnung internationaler Organisationen – beschlossen, dass jemand bis zu sechs Monate unter Hausarrest gestellt werden kann. Dazu genügt der Verdacht, dass er eine Tat begehen könnte. Und vorgesehen ist auf Bundesebene auch, dass künftig mit Fussfesseln überwacht wird, ob jemand nach häuslicher Gewalt oder nach Stalking ein Rayonverbot einhält.

Generalsekretär: Polizei muss mit technischer Entwicklung mithalten

Daniel Bohne, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten, verteidigt die Massnahmen in den Kantonen. Er sagt: Es gehe nicht darum, dem Bürger über die Schulter zu schauen.

«Es geht schlicht darum, dass die Polizei die Möglichkeit hat, Hinweisen nachzugehen.»
Daniel Bohne

Bohne betont: «In allen Polizeigesetzen wird grosser Wert darauf gelegt, festzuhalten, wozu die Massnahmen nötig sind und wann sie angewendet werden dürfen. Ebenso klar geregelt ist auch der Umgang und die Verwendung der erhobenen Daten.» Und während einerseits die polizeilichen Möglichkeiten kritisiert werden, heisse es umgekehrt:

«Warum hat die Polizei nichts getan, wenn sie doch hätte wissen können, dass es zu einer Straftat kommen könnte?»
Daniel Bohne
Generalsekretär der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten: Daniel Bohne.
Generalsekretär der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten: Daniel Bohne. KKPKs

Ebenso wichtig ist für die Polizei, mit der technischen Entwicklung – einigermassen – mithalten zu können. Die Polizei will etwa nicht vor geschlossenen virtuellen Türen stehen: Wenn sie auf der Strasse einen Mann anhalten darf, der ein Kind anspricht, warum soll sie nicht auch in einem Chatraum ermitteln dürfen, ob Männer Minderjährige ansprechen? Oder warum sollte sie nicht schauen können, in welchen Gassen es bei einer Demonstration eng und gefährlich wird, während sich die Demonstrierenden über soziale Kanäle rasch organisieren können?

Inzwischen hat auch schon das Bundesgericht eingegriffen, wenn Gesetze zu weit gingen, etwa beim Berner Polizeigesetz. Dort wollte die Polizei – bei Anzeichen für ein Verbrechen oder Vergehen – ohne richterliche Kontrolle einen Monat lang GPS-Sender an Fahrzeugen anbringen dürfen. Erst die Richter in Lausanne stoppten das Vorhaben, das stark in die Privatsphäre eingriff. Die Volksabstimmung hatte das Berner Gesetz mit 76 Prozent Zustimmung überstanden. Mit fast ebenso hoher Zustimmung sagten die Solothurner am Sonntag Ja. Trotz aller Warnungen.

Wo die Polizei mehr Kompetenzen erhalten hat – die Beispiele

Wie das Demonstrieren teuer werden kann

Kommt es zu Schäden oder Ausschreitungen an Demonstrationen, können in verschiedenen Kantonen die Kosten auf Demonstrierende oder auf die Organisatoren überwälzt werden. Je nach Kanton sind es bis zu 30000 Franken. Damit, so befürchten Kritiker der Massnahme, werden Personen abgehalten, überhaupt demonstrieren zu gehen.

Demonstranten halten Transparente und zuenden Petarden an der Kundgebung Basel Nazifrei in Basel, am Samstag, 28. November 2020. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
Schäden könnten die Demonstrierenden zukünftig teuer zu stehen kommen.Bild: keystone

Die Drohung reicht für den Eintrag ins Register

Hat jemand Behörden oder anderen Personen gedroht, werden seine Daten im sogenannten Bedrohungsmanagement erfasst. Über spezifische, teils computergestützte Programme klärt die Polizei ab, wie hoch das Risiko ist, dass jemand eine Gewalttat begeht. Für Betroffene kann dieser Eingriff durchaus Restriktionen nach sich ziehen, ohne dass sie eine Tat begangen haben.

Die Polizei filmt mit – und die Bündner dürften gar Gesichtserkennungssoftware einsetzen

Verschiedene Polizeikorps dürfen bei Demonstrationen Drohnen einsetzen und Filmaufnahmen machen. Auch tragen Polizisten in mehreren Kantonen bei heiklen Einsätzen oder Demonstrationen Bodycams und filmen. Wie die Aufnahmen verwendet werden dürfen, ist heute meist durch restriktive Datenschutzvorgaben geregelt.

Eine Polizeipuppe mit Body-Cam an einer Medienkonferenz in Zuerich, am Dienstag, 13. Dezember 2016. Die Zuercher Stadtpolizei orientierte ueber das Projekt Polizeiarbeit in urbanen Spannungsfeldern (P ...
Eine Polizeipuppe mit Bodycam an einer Medienkonferenz in Zürich 2016.Bild: KEYSTONE

Gegner befürchten aber, dass der gläserne Bürger mit wenigen Gesetzesanpassungen Realität werden könnte. Am weitesten geht Graubünden. Der Kanton hat explizit die gesetzliche Grundlage geschaffen, um Gesichtserkennungsprogramme einzusetzen, die man allerdings noch nicht besitzt. Zwar muss der Verdacht vorliegen, dass eine Straftat begangen wurde. Aber die Frage steht im Raum: Könnte der Staat künftig irgendwann einmal eruieren, wer alles an einer Demonstration war?

Zoll scannt mit 300 Kameras Autofahrer in der ganzen Schweiz

Scanner an Autobahnen registrieren die Kontrollschilder aller vorbeifahrenden Autos und gleichen sie mit Datenbanken ab. Die grossen Datenmengen helfen der Polizei: Welcher Autohalter fuhr herum, obwohl er keinen Ausweis hat? Hat ein ausländischer Durchreisender früher keine Busse bezahlt?

Die Datenschutzhürden sind in vielen Kantonen hoch, Datensätze werden sofort gelöscht. Für Schlagzeilen sorgte aber der Kanton Thurgau. Er sammelte die Daten lange ohne gesetzliche Grundlage. Das Bundesgericht, das dies dann unterband, warnte vor den Gefahren der Scanner: «Namentlich die Kombination mit anderweitig erhobenen Daten und eine entsprechende Streuweite des Systems können Grundlage für Persönlichkeits- oder Bewegungsprofile bilden.» Zudem könne ein solcher Grundrechtseingriff eine abschreckende Wirkung zeigen: «Die Möglichkeit einer späteren (geheimen) Verwendung durch die Behörden und das damit einhergehende Gefühl der Überwachung können die Selbstbestimmung wesentlich hemmen.»

ARCHIVBILD ZUR MELDUNG, DASS DEUTSCHLAND DIE SCHWEIZ AB KOMMENDEN SAMSTAG ZU CORONA-RISIKOGEBIET ERKLAERT, AM DONNERSTAG, 22. OKTOBER 2020 - Grenzwaechter am Autobahn-Zoll, aufgenommen am Montag, 15.  ...
Die Überwachung an den Grenzen nimmt zu.Bild: keystone

Die Zollverwaltung nutzt diese Scanner intensiv: Sie besitzt schweizweit inzwischen 300 Kameras, mit denen sie Nummernschilder scannt – vorwiegend in der Nähe der Grenze. 2015 waren es erst 200. Wo genau die Zollverwaltung fixe Scanner installiert hat, will sie «aus einsatztaktischen Gründen» nicht sagen. Die Datenschutzregeln sind lascher als in den Kantonen: In der Regel werden die Aufnahmen einen Monat lang aufbewahrt, falls Strafverfahren eröffnet werden könnten, auch länger.

Wo sich der Polizist nicht zu erkennen geben muss

Ermittler können sich, ohne dass ein Ermittlungsverfahren gegen eine Person läuft, in nichtöffentliche Räume wie Privatclubs oder Chatforen begeben und dort potentielle Täter ansprechen. Sie dürfen einen falschen Namen und falsche Angaben zu ihrem Beruf machen. Im ersten Monat muss kein Richter die verdeckte Fahndung anordnen.

In Schwyz dürfen sich auch privat nicht alle treffen

Im Kanton Schwyz ist im neuen Polizeigesetz ein Veranstaltungsverbot vorgesehen für extremistische Gruppierungen, etwa Neonazis. Dies gilt sogar explizit auf privatem Grund. Die Schwyzer SVP äusserte Bedenken, dass damit die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde.

(saw/aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Klima-Camp: Polizei räumt Bundesplatz
1 / 9
Klima-Camp: Polizei räumt Bundesplatz
Die Räumung des Bundesplatzes hat in der Nacht begonnen.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Polizeigewalt in Bern
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
71 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Lord_Mort
02.12.2020 09:48registriert Oktober 2015
Man würde besser Geld in soziale Institutionen investieren, welche Kinder und Jugendliche aus problematischen Verhältnissen unterstützen, statt in Überwachungsmethoden investieren. Nach Anschlägen oder Einzeltaten heisst es meist, der Täter sei der Polizei bekannt gewesen. Die Straftat wurde trotzdem nicht verhindert. Eine frühe Intervention kann nachhaltiger Straftaten verhindern. Meist heisst es allerdings, die Kosten währen zu hoch. Die Kosten pro Tag für einen Häftling bewegen sich bei uns um die 400 CHF. Ich denke präventive Massnahmen in der Jugend sind langfristig kostengünstiger.
14752
Melden
Zum Kommentar
avatar
raues Endoplasmatisches Retikulum
02.12.2020 10:18registriert Juli 2017
Und das traurige ist, die Bevölkerung hat bis jetzt merheitlich alles durchgewunken.
13851
Melden
Zum Kommentar
avatar
insert_brain_here
02.12.2020 10:29registriert Oktober 2019
Die hohen Ja-Anteile in den Abstimmungen sind darin begründet dass sehr viele Menschen nur eine rudimentäre Vorstellung davon haben was ein Rechtsstaat genau ist und wie er funktioniert. Die "Wer nichts getan hat hat auch nichts zu befürchten"-Argumentation funktioniert immernoch. Der Gedanke, dass auch Polizisten und Staatsanwälte Menschen sind die Fehler machen oder gar mit bösartiger bis krimineller Absicht vorgehen können kommt vielen erst gar nicht in den Sinn.
Ist die Fichen-Affäre wirklich schon so lange her?
6522
Melden
Zum Kommentar
71
So mies wird das Wetter am Wochenende, aber wir hätten da ein paar Ideen für dich

Die Badehose war schon entstaubt, der Grillplatz gereinigt. Und nun kommt doch der Winter zurück. Die Schweiz hat gerade mit Minimaltemperaturen um den Gefrierpunkt zu kämpfen. Der April zeigt sich also wieder von seiner widerspenstigen Seite.

Zur Story