In ihrer jüngsten Ausgabe stellt die «Weltwoche» den ehemaligen Premierminister von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, auf dem Titelbild in eine Reihe mit Napoleon, Mussolini und Hitler. Juncker war der Spitzenkandidat der siegreichen konservativen Fraktion bei der Wahl zum Europaparlament und hat daher gute Chancen, der nächste Präsident der EU-Kommission zu werden. Mit dem Titelbild suggeriert die «Weltwoche» daher nicht weniger, als dass die EU bald faschistisch regiert werden könnte.
Gestützt wird die These «EU gleich Faschismus» im Inneren des Blattes mit einem Essay eines jungen holländischen Publizisten namens Thierry Baudet. Mit ein paar Zitaten von Mussolini und Goebbels kommt er zur erstaunlichen Aussage, wonach der Faschismus das gleiche Ziel verfolgt habe wie heute die EU: Eine Vereinigung Europas gegen den Willen der Europäer.
Erneut sei eine abgehobene politische Elite am Ruder, gegen die das gemeine Volk zu Recht rebelliere, lautet Baudets Grundtenor. Zum gleichen Schluss kommt auch Chefredaktor Roger Köppel in seinem Editorial. Die Erfolge der Rechtspopulisten bei den Wahlen zum Europaparlament seien nicht etwa Vorboten eines neuen Nationalismus. «Was wir jetzt zum Glück erleben, ist eine heilsame Retourkutsche der Demokratie», stellt Köppel fest.
Köppels groteske Geschichtsklitterung ist keine einmalige Entgleisung. Derzeit ist eine totale Sprachverwirrung im politischen Vokabular wieder normal geworden. Am frivolsten treibt es dabei der russische Präsident Wladimir Putin. Er hat Russland in den letzten Jahren auf einen harten nationalistischen Kurs getrimmt, hat dabei systematisch die Opposition ausgeschaltet, hetzt gegen Schwule, höhnt über westliche Dekadenz, beschwört traditionelle Werte Russlands und lügt schamlos.
Kurz: Putin spielt das klassische Repertoir des Faschismus durch und rechtfertigt dies im Namen des Anti-Faschismus. Er müsse die Russen vor den Faschisten retten, beteuert Putin tolldreist.
In den USA wird Präsident Barack Obama ausgerechnet im rechtsextremen TV-Sender «Foxnews» regelmässig mit Hitler verglichen. Tea-Party-Mitglieder schwenken bei ihren Demonstrationen Plakate, die ihn mit einem Hitlerschnauz zeigen.
Seine Gesundheitsreform – die in etwa das verwirklicht hat, was bei uns längst normal ist – wird als totalitär, sein erfolgloser Kampf für ein schärferes Waffengesetz als faschistisch bezeichnet.
«Wenn ich ein Wort verwende», belehrt Humpty Dumpty Alice im Wunderland, «dann bedeutet es genau, was ich es bedeuten lasse, und nichts anderes.»
Nach dieser Devise wird heute das Wort Faschismus verwendet. Historisch gesehen war Faschismus die Bezeichnung für eine bestimmte, autoritäre Staatsform. Heute bezeichnen sich die Faschisten als Anti-Faschisten und beschimpfen gleichzeitig ihre Gegner als Faschisten. Der Begriff ist bedeutungslos und damit beliebig verwendbar geworden.
Wir erleben etwas, das George Orwell in seinem legendären Roman «1984» als Newspeak bezeichnet. Er versteht darunter das Phänomen, das politische Begriffe je nach Situation auch mit der gegenteiligen Aussage verwendet werden. Im Newspeak der politischen Propaganda kann so Krieg zu Frieden und Frieden zu Krieg werden.
Newspeak hat die Politik vor dem Ersten Weltkrieg geprägt. Im nationalistisch und militaristisch aufgeheizten Klima war keine Aussage zu absurd, um nicht in der Politpropaganda verwendet zu werden.
Rationale Diskussionen – die Grundvoraussetzung für jede funktionierende Demokratie – waren unmöglich geworden. Politik war gleichbedeutend geworden mit Verunglimpfung. Jede noch so absurde Behauptung war legitim, wenn sie der Schwächung des Gegners diente.
Die Künstler reagierten damals auf die totale Sprachverwirrung mit Dadaismus und Surrealismus, der Sinn wurde im Unsinn gesucht.
In der Philosophie wurde versucht, der Vernunft wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Ludwig Wittgenstein unternahm in seinen logisch-philosophischen Abhandlungen den ehrgeizigen Versuch, eine rein logische Sprache zu konstruieren, um so den politischen Newspeak zu entlarven. Er scheiterte grandios.
Bis heute ist es ein Kampf gegen Windmühlen geblieben. Wie Köppel und die «Weltwoche» erneut beweisen: Gegen Newspeak ist kein Kraut gewachsen.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)
Und dieser Feldherr hält sich einen Hofnarren, dem er eine Zeitung als Sprachrohr zur Verfügung stellt.