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Interview

Warum Frauen nach einer Vergewaltigung nicht zur Polizei gehen

Aktivisten mit Plakaten fotografiert waehrend einer Aktion gegen sexuelle Gewalt an Frauen in der Schweiz vor dem Bundeshaus in Bern, auf der Bundesterrasse, am Dienstag, 21. Mai 2019. Amnesty Interna ...
«Nein heisst Nein» – Aktivisten mit Plakaten während einer Aktion gegen sexuelle Gewalt an Frauen in der Schweiz.Bild: KEYSTONE
Interview

«Vergewaltigungsmythen stellen die Glaubwürdigkeit der Frauen in Frage»

Mehr als jede zehnte Frau in der Schweiz erlebte Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Aber nur ein Bruchteil davon erstattet Anzeige. Agota Lavoyer von der Opferberatungsstelle LANTANA erklärt, warum das so ist.
22.05.2019, 11:1322.05.2019, 18:04
Helene Obrist
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Frau Lavoyer, eine Studie vom gfs.bern zeigt, dass fast die Hälfte aller Frauen andere Frauen kennt, die sexuelle Gewalt erleben mussten. Hat Sie diese Zahl schockiert?
Die hohe Zahl ist erschütternd und zeigt, dass noch sehr viel geschehen muss.

13 Fakten zur Studie über sexuelle Gewalt an Frauen in der Schweiz

430'000 Frauen in der Schweiz mussten Sex gegen den eigenen Willen erleben. Zur Anzeige gebracht werden Vergewaltigungen aber nur sehr selten. Warum?
Diejenigen, die ihr Schweigen brechen, müssen sich oft enorm rechtfertigen. Opferfeindliche und den Täter entlastende Vergewaltigungsmythen stellen die Glaubwürdigkeit der Frauen in Frage und schreiben ihnen eine Mitschuld zu. Diese Mythen führen zu einer Abwertung der Opfer und hindern sie daran, Hilfe in Anspruch zu nehmen und Anzeige zu erstatten. Es ist erschreckend, wie wenig Fachwissen zu sexueller Gewalt bei Polizei, Behörden und Staatsanwälten vorhanden ist.

«Es ist erschreckend, wie wenig Fachwissen zu sexueller Gewalt bei Polizei, Behörden und Staatsanwälten vorhanden ist.»
Agota Lavoyer

Können Sie dazu konkrete Beispiele nennen?
Die Glaubwürdigkeit der Opfer wird oft reflexartig in Frage gestellt. Ich erinnere mich an einen Fall vor Gericht. Da berichtete eine vergewaltigte Frau, dass das Jahr nach der Vergewaltigung das schlimmste ihres Lebens war. Der Richter hakte nach und wollte von der Betroffenen wissen, warum denn genau das Jahr danach und nicht das Jahr, in dem die Vergewaltigung geschah, ihrer Meinung nach so schlimm war. Eine weitere Verhandlung ist mir ebenfalls in guter Erinnerung geblieben. Das Vergewaltigungsopfer verlangt vor Gericht vom Täter 100 Franken Entschädigung für das Kleid, das sie an jenem Abend trug und bei der Tat schmutzig wurde. Der Richter erkundigte sich danach bei der Frau, ob sie denn das Kleid nicht einfach waschen könne.

Agota Lavoyer arbeitet bei der Opferberatungsstelle LANTANA in Bern.
Agota Lavoyer arbeitet bei der Opferberatungsstelle LANTANA in Bern. bild: Amnesty International

Vergewaltigungsopfern wird oft auch vorgeworfen, sie hätten sich nicht genügend gewehrt.
Das sogenannte Freezing, also das Erstarren während einer Vergewaltigung, ist oft die einzige Möglichkeit, die physischen Schmerzen zu ertragen und das Trauma psychisch zu bewältigen.

Gibt es Fälle, wo Sie Frauen davon abraten, Strafanzeige zu erstatten?
Strafanzeigenberatung ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Die Entscheidung dafür oder dagegen müssen die Frauen aber selbst fällen. Wir versuchen, sie über alle positiven und negativen Aspekte so gut wie möglich zu informieren. Beispielsweise kann ein Strafverfahren bis zu vier Jahre dauern. Zudem kann es für die Opfer sehr unangenehm sein, da sie bei den Einvernehmungen die Tat sehr detailliert schildern müssen.

«Das Vergewaltigungsopfer verlangt vor Gericht vom Täter 100 Franken Entschädigung für das Kleid, das sie an jenem Abend trug und bei der Tat schmutzig wurde. Der Richter erkundigte sich danach bei der Frau, ob sie denn das Kleid nicht einfach waschen könne.»
Agota Lavoyer

Was muss passieren, dass sich mehr Frauen trauen, darüber zu sprechen und Anzeige zu erstatten?
Sexuelle Gewalt muss als gesellschaftliches Problem anerkannt und als Priorität behandelt werden.

Eine Petition fordert von Justizministerin Karin Keller-Sutter, Vorschläge für eine Reform des Sexualstrafrechts vorzulegen. Alle sexuellen Handlungen ohne Einverständnis sollen künftig strafbar sein. Wird eine solche Verschärfung den Opfern helfen?
Die Verschärfung des Gesetzes ist ein wichtiger und richtiger Schritt. 9 von 10 Tätern kommen heute straffrei davon. Das muss man sich einmal vorstellen. Es darf nicht die Aufgabe der Frauen sein, sich vor sexueller Gewalt zu schützen. Das muss das Gesetz tun.

Petition an Bundesrätin Keller-Sutter
Amnesty International ruft in einer Petition Justizministerin Karin Keller-Sutter und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement dazu auf, Vorschläge für eine Reform des Sexualstrafrechts vorzulegen, damit alle sexuellen Handlungen ohne Einverständnis strafbar sind. Weiter verlangt die Petition die obligatorische Ausbildung und kontinuierliche Schulung bei Justiz, Polizei sowie für Anwältinnen und Anwälte im Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt sowie systematische Datenerhebungen und Forschung zur strafrechtlichen Verfolgung von Delikten gegen die sexuelle Integrität in der Schweiz. (ohe)
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quelle: epa/dpa / maurizio gambarini
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72 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MBär
21.05.2019 20:37registriert Januar 2019
Die Zahlen sind schockierend....
Es ist sehr gut & wichtig, dass Forderungen nach einem härteren Vorgehen gegen Täter laut werden & die Netze enger geknüpft um sie zu verurteilen!

(Und nun der Teil, in welchem ich mich ziemlich sicher in die Nesseln setze...)

Auch wäre ein Gesetz denkbar, welches jemanden, der eine andere Person fälschlicherweise und in böser Absicht eines (eben nicht stattgefundenen) Sexualdeliktes beschuldigt, härter bestraft. Gerade dann, wenn der unschuldige "Täter", bzw hier eben das Opfer, fälschlicherweise verurteilt wurde. Auch dies war schon der Fall. Meinuungen?
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Ökonometriker
22.05.2019 01:16registriert Januar 2017
Die Gerichte müssen Wahrheitsfindung betreiben und da klar die grösstmögliche Transparenz schaffen. Dies kann bei traumatisierten Opfern weiteren Stress auslösen und sie quasi zwingen, die Tat erneut zu durchleben. Doch was wären die Alternativen? Freispruch für den Täter oder den Rechtsgrundsatz in dubio pro reo abschaffen und Fehlverurteilungen riskieren? Auch keine tollen Optionen.
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Borki
21.05.2019 20:37registriert Mai 2018
Geschätzte Frauen
Würde es helfen, wenn jede Kantonspolizei eine eigene Anlaufstelle mit weiblichem Personal für dieses Thema haben würde?

Falls ja, sollte das ungeachtet der Kosten quasi sofort eingerichtet werden.
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