Liebes «Volk»
Draussen sind ausserordentlich schöne Sommertage derzeit. Weniger schön ist das gesellschaftliche Klima. Auf den Strassen, in den Medien, in dir.
Nach einem Überfall auf Ausgängerinnen in Genf debattierst du unter Mithilfe gewählter «Volks»-Vertreterinnen und landesweit aufgehängter Kiosk-Aushänge, ob und wie sehr man es jetzt endlich sagen müsse, dass explizit die Ausländer und implizit die Muslime für Gewalt gegen Frauen verantwortlich sind.
Auch diskutierst du darüber, ob dein Sommerhit «079» frauenfeindlich sei oder nicht. Der Politikerin, die die Beobachtung gemacht hat, wird noch schlimmere Gewalt angedroht, als diejenige, die den Genfer Ausgängerinnen angetan worden ist. Eine Schaffhauser Zeitung, deren Aufgabe es wäre, in der Sache zwecks Erkenntnisgewinn verschiedene Perspektiven zu eröffnen, hetzt unter Hohn und Angabe von Handynummer gegen die Frau.
Auf der Basler Wettstein-Brücke kann die Polizei nur knapp verhindern, dass sich Leute prügeln und in den Rhein werfen, weil die einen finden, Logo und Name einer Kleinbasler Fasnachtsgesellschaft seien rassistisch und die anderen Logo und Name ebendieser Fasnachtsgesellschaft für unter Einsatz körperlicher Gewalt schützenswertes Kulturgut halten.
In allen drei Fällen sind wichtige und kontinuierlich zu führende Debatten über gleichberechtigtes Zusammenleben von Frauen und Männern, Ausländern und Ureinwohnern, Schwarzen und Weissen, Muslimen, Christen und anderen Religionen völlig verkommen. Verkommen zu rassistischen und sexistischen Hetz-Veranstaltungen, die eher dazu dienen, einzelne Gruppen von hier lebenden Menschen auszuschliessen oder gegeneinander aufzubringen, statt dazu, gemeinsam Probleme zu lösen.
So stelle ich mir das «Volk», zu dem alle gehören, die hier leben, nicht vor. Deswegen schreibe ich dich auch konsequent in Anführungszeichen, nimm es mir bitte nicht übel.
Dass du mit internem Desintegrationsfuror beschäftigt bist, ist das eine. Fast so schlimm ist, dass du darob vergisst, wofür du als «Volk» in der Welt verantwortlich bist. Während du ohne jedes zählbare Ergebnis laut über Guggenmusiken und Sommerhits gestritten hast, haben deine «Volks»-Vertreter der SVP und FDP auf Wunsch der Rüstungsindustrie weitgehend still und leise einen Beschluss mit ganz konkreten Folgen durchgedrückt: Nämlich dass du, als «Volk», nichts dazu zu sagen hast, ob Schweizer Waffen künftig auch in Konfliktländer geliefert werden dürfen, wo sie ihren Zweck, das Töten, erfüllen werden. Keine Vernehmlassung, keine Parlamentsdebatte, keine Abstimmung.
Das scheint dich dann wiederum völlig kalt zu lassen, weswegen eigentlich nur die Frage bleibt, an welchem dieser schönen Hitzetage dir der Anstand ausgetrocknet ist.
Ratloser Gruss
Maurice Thiriet