Mehr als 53'000 Zuschauerinnen und Zuschauer bei einem Frauen-Fussballspiel? Das ist nicht die Gegenwart, sondern eine historische Marke, die bis vor knapp zwölf Wochen bestand hatte. Mehr als zehntausend Menschen mussten am 26. Dezember 1920 vor den Toren des Goodison Parks, der Heimat des FC Everton, kehrtmachen, als die Dick Kerr’s Ladies gegen die St. Helen’s Ladies antraten. 53'000 durften zuschauen. Das Stadion war voll. Ein Rekord für eine halbe Ewigkeit. Erst Mitte Märze 2019 geknackt bei der Partie Atletico Madrid gegen FC Barcelona vor 60'739 Fans. Das liegt auch daran, dass der englische Fussballverband kurz nach dem Rekordspiel den Frauen das Fussballspielen verbot. Die Begründung von 1922: Fussball sei für Frauen «nicht geeignet und sollte deshalb nicht gefördert werden».
🇪🇸 60,739 at Atletico vs Barcelona
— talkSPORT (@talkSPORT) 14. April 2019
🇮🇹 39,000 at Juventus vs Fiorentina
🇸🇪 25,882 watch Sweden vs Germany
🇫🇷 25,907 at Lyon vs PSG
Record attendances at women’s football matches in the last few weeks 💪 pic.twitter.com/gRpaWhAxYi
Das Verbot, die Weltwirtschaftskrise, die beiden Weltkriege – was auch immer es war, in der Schweiz findet der Frauenfussball bis Mitte der 60er-Jahre praktisch gar keine Erwähnung. Erstmals für Aufsehen sorgt hierzulande Madleine Boll. 1965 stellt ihr der SFV aus Versehen eine Lizenz aus. Sie spielte dann in einem Vorspiel des ersten Europacup-Spiels des FC Sion gegen Galatasaray Istanbul. Journalisten aus aller Welt kamen ihretwegen. Eine Sensation damals. Wenig später wurde ihr Spielerpass annulliert.
Ab 1970 nahm die Entwicklung rund um den Frauenfussball richtig Schwung auf. Unterdessen gibt es längst Profi-Fussballerinnen. Doch während die Männer Millionen kassieren, hat eine Umfrage der Spielervereinigung «FifPro» unter Spielerinnen der Women’s Super League, der höchsten englischen Liga, ergeben, dass 88 Prozent weniger als 23'000 Franken im Jahr verdienen. Ganz zu schweigen von der Schweiz. Hier weiss Frau noch, warum sie Fussball spielt: aus Leidenschaft. Denn in der heimischen Liga reicht es maximal zur Halbprofi. Und das auch nur in Basel, Bern, Genf und Zürich. Wer mehr will, sportlich wie finanziell, wechselt ins Ausland. Sobald wie möglich. Von 23 Spielerinnen im Kader der Schweizer Nationalmannschaft spielen nächste Saison 20 im Ausland.
Reich werden nur ganz wenige Fussballerinnen. Manche können gut davon leben, die meisten eher knapp, etliche studieren nebenbei. Das könnte sich aber schon bald ändern. Denn Frauenfussball boomt. Auch in der Schweiz. Und das obschon die Frauen-Nationalmannschaft die Qualifikation für die heute in Frankreich startende WM der Frauen nicht dabei ist. Es geht hier um eine internationale Entwicklung. Begünstigt durch die #Metoo-Debatte ist unsere Aufmerksamkeit auf Fragen gerichtet, in denen es um Gleichstellung geht, um Gleichbehandlung. So überfällig dieser Mentalitätswandel war, so zügig zieht er nun weitere Veränderungen nach sich.
Ist der Fokus der Öffentlichkeit einmal auf einem Thema, beschleunigen sich Entwicklungen. Die Wirtschaft springt auf, so wie die englische Investmentbank Barclays, die während der nächsten drei Jahre rund 12 Millionen Franken in die höchste englische Frauenliga pumpen wird. Visa geht mit der Fifa eine langjährige Partnerschaft zur Förderung des Frauenfussballs ein, Adidas will den deutschen Fussballerinnen dieselben Leistungsprämien zahlen wie den Männern bei der WM in Russland vor einem Jahr und die Commerzbank wirbt mit der deutschen Frauen-Nationalmannschaft. «Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze», heisst es in diesem Werbespot selbstbewusst.
Natürlich hinkt die Schweiz den internationalen Entwicklungen wie so oft hinterher. Erinnern wir uns bloss daran, dass das Frauenstimmrecht in der Eidgenossenschaft erst 1971 eingeführt wurde. Aber es tut sich was, auch hier bei uns daheim. In Bern gibt es im Kulturlokal Turnhalle fast alle Spiele der WM in einem Public Viewing zu sehen, in Genf zeigen sie Halbfinal und Final auf einem öffentlichen Platz, Spielerinnen werden vor Ort sein. Es sind zaghafte Regungen in einem Land, in dem die Frauen ihre Spitzenspiele meist noch auf irgendwelchen Trainingsplätzen austragen müssen
Aber wir sind an einem Punkt, an dem man das Gefühl hat, dass es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis auch die YB-Frauen regelmässig im Stade de Suisse aufmarschieren, die Baslerinnen im Joggeli. Es kann nicht mehr lange dauern und erste Sponsoren begreifen auch hierzulande, dass man mit der Förderung des Frauenfussballs Punkte sammeln kann. Weil man Werte transportiert mit der Unterstützung der Frauen in ihrem Streben nach Gleichbehandlung. Werte, die eine Rolle spielen, die uns heute wichtig sind. Zuvorderst und zuerst die Gleichstellung.
Zuletzt der Blick in den Spiegel: Was kann ich tun? Als Mutter kann ich meine Tochter mitnehmen zum Spiel der Frauen-Nati, als Bruder die Schwester zum Saisonauftakt der FCB-Frauen, als Sohn den Vater zum Spiel der Schwester. Wir müssen uns bloss interessieren, zuschauen. Es ist unsere Aufmerksamkeit, es ist unser Sport, es ist Fussball.