Der Kraftakt geht in eine neue Runde. Premierminister Edouard Philippe zeigte sich am Wochenende bereit, auf das faktische Rentenalter 64 – heute liegt es in Frankreich bei 62 Jahren – «provisorisch» zu verzichten. Dieser klare Rückzieher der Regierung wurde zwar von gemässigten Gewerkschaften wie CFDT und Unsa begrüsst. Die radikaleren Organisationen wie CGT, SUD und FO verlangen aber weiter den bedingungslosen Rückzug der ganzen Rentenreform. Sie beginnen diese Woche mit einer neuen, dreitägigen Protestaktion.
Die Demonstranten sind zwar weniger zahlreich als zum Streikbeginn Anfang Dezember. Sie erhalten aber Unterstützung von links – bis weit rechts. Marine Le Pen, Vorsteherin des «Rassemblement National (RN)», wirft Präsident Emmanuel Macron vor, er organisiere einen «Überfall» auf die Geldbörsen der Franzosen. Nicht die Streikenden verursachten ein «Chaos», meinte sie, sondern «die Minister und in erster Linie der Präsident der Republik». Wäre Le Pen nicht von der CGT ausgeladen worden, nähme sie zweifellos an den Demos teil.
Ältere RN-Mitglieder aus dem Umfeld von Parteigründer Jean-Marie Le Pen murren zwar über die Solidarität mit der einstmals kommunistischen CGT. Auch der Europaabgeordnete Nicolas Bay erklärte, er werde nicht an der Demo teilnehmen – aber nur deshalb nicht, weil die CGT zwei Wochen zuvor an einer Demo gegen Islamophobie teilgenommen hatte. Damit stehe sie «auf der Seite der Islamisten», fand Bay.
Doch Le Pen hat da keine Berührungsängste. Sie gibt sich sozialer als alle Sozialisten und verlangt die Rückkehr zum Rentenalter 60. Finanzieren will sie die Senkung des Rentenalters mit den «Milliarden, die Frankreich heute ausgibt, um illegale Einwanderer zu empfangen».
Früher hätte sich Le Pen ereifert, wenn sie solche Sprüche zum Besten gab. Heute tritt die blonde 50-Jährige betont staatsmännisch auf; sie kleidet sich dunkelblau und gibt ihre rentenpolitischen Weisheiten – Ökonomen nennen sie eher «Voodoo-Programm» – in einer ruhigen, bewusst tiefen Stimmlage von sich. Die Absicht scheint klar: Ihre Auftritte sollen präsidial klingen.
Und möglichst links. Schon bei der Gelbwestenkrise hatte Le Pen einen betont sozialen Diskurs gegen die Pariser Eliten und für die Randständigen der Nation gepflegt. Auch jetzt tritt ihre Partei, die laut Stimmanalysen die erste Partei der unteren Mittelschicht ist, für die Kleinrentner ein.
Le Pen schielt dabei offen auf das Wählerreservoir der Linkspartei «La France insoumise» (unbeugsames Frankreich) von Jean-Luc Mélenchon, der auch zur CGT hält. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 stagnierte die RN-Chefin im zweiten Durchgang gegen Macron bei weniger als 34 Prozent. Das zeigt laut dem Politologen Jean-Yves Camus, dass ihr Potenzial auf der Rechten erschöpft ist. Um in die Nähe von 50 Prozent Stimmen zu kommen, braucht Le Pen in der Stichwahl die Stimmen der Unbeugsamen und der Kommunisten – der früheren Partei der «kleinen Leute» in Frankreich.
Laut Camus sind diese Arbeiter, Kleingewerbler und Beamten am ehesten empfänglich für soziale Forderungen, «auch wenn sie politische Unordnung und die extreme Linke verabscheuen». Le Pen nimmt das Risiko in Kauf, Gelbwesten und Gewerkschaften zu unterstützen, welche die staatliche Autorität mit Randale oder Dauerstreiks herausfordern. Dafür verspricht sie sich höheren Gewinn durch den Zuzug ehemaliger Linkswähler, die Macrons Reformkurs nur als Sozialabbau erleben.
Umfragen geben Le Pen recht: Laut neuerer Erhebungen kann sie bei den Präsidentschaftswahlen von 2022 gegenüber Macron mit 45 Prozent der Stimmen rechnen. Das wären zehn Prozent mehr als bei der letzten Wahl vor drei Jahren. Bei einem Stimmenverhältnis von 55 zu 45 kann es durchaus eng werden, zumal die «republikanische» Stimmübertragung auf den so unpopulären Präsidenten nur noch schlecht funktionieren dürfte.
Selbst wenn Macron seine Rentenreform noch einigermassen durchbringen sollte, muss er mit einem Kollateralschaden rechnen – und der heisst Marine Le Pen. An einem Auftritt in Paris betonte Le Pen am Sonntag in aller Direktheit ihren «Willen zu regieren». (mim/aargauerzeitung.ch)
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