Die Lautsprecher-Durchsage hat sich ins kollektive Gedächtnis der Schweizer Bevölkerung eingebrannt. Es war die grösste Pleite der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Das Ende der «fliegenden Bank». In Zürich Kloten war man am 2. Oktober 2001 fassungslos. Die Angestellten, die plötzlich um ihre Zukunft bangten. Die Passagiere, die in die Ferien fliegen wollten. Das Management, das die Kontrolle über die Firma verloren hatte. Das Land lernte einen neuen Begriff: Grounding.
«Meine Damen und Herren, liebe Fluggäste. Aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen.»
Kommende Woche jährt es sich zum 15. Mal. Georges Schorderet war an diesem schwarzen Tag bereits nicht mehr an Bord der Swissair-Geschäftsleitung: Zum Mitschuldigen am Finanzdebakel gestempelt, hatte ihn der neue CEO Mario Corti abserviert.
Schorderet steht zusammen mit Philippe Bruggisser, der von Corti abgelöst worden war, für den Anfang vom Ende der Swissair. Lange schwieg er. Nun spricht Schorderet gegenüber der «Schweiz am Sonntag» erstmals wieder über die Geschehnisse. Bereut er inzwischen etwas? «Wir haben versucht, unser Bestes zu geben, um dieser Firma zu dienen. Natürlich wurden Fehler gemacht», sagt der Fribourgeois, der inzwischen CEO des 5-Milliarden-Konzerns Almarai in Saudi-Arabien ist. «Im Nachhinein ist man immer schlauer.»
Noch im Sommer 2000, ein gutes Jahr vor dem Grounding, hatte er die Aktionäre und Angestellten beruhigt: Ende Jahr würde ein Gewinn von 200 Millionen Franken resultieren. Am Schluss war es ein Verlust von 2,9 Milliarden. «Die Realität war plötzlich eine andere», sagt Schorderet rückblickend. Man habe den Gewinn neu beurteilen müssen. Das sei eine Konsequenz der Strategieänderung gewesen.
Die Strategie hiess Hunter und wurde von Bruggisser im Zuge der New Economy lanciert, auf Empfehlung der US-Beratungsfirma McKinsey: Ende der 90er-Jahre beginnt die Swissair defizitäre europäische Airlines zu übernehmen. Wachstum ist die oberste Maxime. Die hoch angesehene Swissair, glaubt man, könne sich das leisten. Ihre Piloten sind die Helden der Lüfte.
Die Wahl in den vom Freisinn dominierten Verwaltungsrat gilt als gesellschaftlicher Ritterschlag. Doch Bruggissers Rechnung geht nicht auf. Wegen der Jagd nach Beteiligungen – etwa an der belgischen Sabena oder der polnischen Lot – explodieren die Schulden der Swissair.
Im Sommer 2001 hat die Swissair-Gruppe einen Schuldenberg von 15 Milliarden Franken angehäuft. Der Plan Phoenix wird erarbeitet für eine Nachfolge-Airline, aufbauend auf Moritz Suters Regionalfluggesellschaft Crossair. Doch am 10. September kündigt die UBS der Swissair das Tageskonto der Tochterfirmen. Einen Tag später donnern zwei Flugzeuge in die Twin Towers in New York. Nach 9/11 brechen die Flugticketverkäufe ein.
Corti verlangt vom Bund eine Garantie von einer Milliarde Franken. Doch Finanzminister Kaspar Villiger wiegelt ab. Auch die Gespräche mit den Grossbanken UBS und Credit Suisse verlaufen ohne Kreditvergabe. Am Morgen des 2. Oktober geht der Swissair das Geld aus, was sich sofort herumspricht. Die Piloten erhalten Couverts mit Tausenden von Franken drin. Kerosin gibt's nur noch gegen Bargeld.
Gegen 10 Uhr erhalten in London die ersten Swissair-Maschinen keine Starterlaubnis wegen ausstehender Rechnungen. Hektik bricht aus am Hauptsitz. Es geht um jede Minute. Corti versucht, UBS-Chef Marcel Ospel zu erreichen, doch der ist im Flugzeug unterwegs und nicht erreichbar. Kurz nach 16 Uhr die schreckliche Erkenntnis. Die Durchsage am Flughafen. Die Swissair bleibt am Boden.
Am Tag danach rechtfertigt sich der Bundesrat und nimmt die Banken in die Pflicht. Sie sollen ihre Position, die Swissair stillzulegen, überdenken, sagt Villiger. Verkehrsminister Moritz Leuenberger doppelt nach: «Der Wirtschaftsführer fährt in der Luft, und der Bundesrat geht in die Luft.»
Je nachdem, wem man zuhört, ist ein anderer schuld. Corti habe überhastet reagiert, der Bundesrat sei zu zögerlich gewesen, UBS-Chef Ospel im entscheidenden Moment unabkömmlich, während sein Chefjurist Peter Kurer – heute Präsident der Telekomfirma Sunrise – pedantisch und arrogant die Rettung verzögerte.
Nach dem Grounding entlädt sich der Ärger der Bevölkerung auf die Manager und Verwaltungsräte, die jahrelang saftige Saläre kassierten, gratis durch die Welt reisten, aber in ihrer Rolle kläglich scheiterten. Jene Zeit sei nicht einfach gewesen, sagt Schorderet. «Wenn ich irgendwo hinging, in die Oper zum Beispiel, begannen die Leute zu tuscheln: Schau, da ist Schorderet. Manchmal drehte ich mich um und sagte: Ja, ich bin Georges Schorderet, Ex-Finanzchef der Swissair.» Es sei in solchen Momenten wichtig gewesen, trotz allem zu sich zu stehen.
Die meisten Verantwortlichen von damals haben sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Allen voran Philippe Bruggisser. Kontaktversuche werden abgeblockt. Schorderet sagt, er selbst verbringe seine Zeit in der Schweiz mit der Familie und mit wenigen, engen Freunden. Mehr nicht. «Ich schreibe aber noch immer Geburtstagskarten an Philippe Bruggisser und weitere ehemalige Kollegen. Sie machen das ebenso. Wir sprechen uns einmal pro Jahr.» Zudem seien einige Rechtsfälle von damals noch nicht gelöst.
Damit die Swiss am 31. März 2002 als Phönix aus der Swissair-Asche starten konnte, investierten der Bund und die Banken 3,25 Milliarden Franken. Erster CEO ist André Dosé. Doch die überdimensionierte Regionalflotte – ein Klotz der ehemaligen Crossair von Moritz Suter –, interne Querelen und der hohe Ölpreis während des Irak-Kriegs sorgen für grosse Verluste. Es folgen Flotten- und Stellenabbau.
Die roten Zahlen bleiben. Die deutsche Lufthansa kommt deshalb wie gerufen. Sie krallt sich die Swiss für ein Butterbrot, wie Kritiker heute noch monieren. Der Kaufpreis beträgt 339 Millionen Franken – ein Klacks im Vergleich zur Initialinvestition.
Der Turnaround unter dem neuen CEO Christoph Franz gelingt, und ab 2009 schraubt sein Nachfolger Harry Hohmeister die Rentabilität weiter in die Höhe. Die Swiss gedeiht prächtig, während andere Traditionsairlines alte Kostenstrukturen mit sich schleppen. Im vergangenen Jahr resultiert gar ein Gewinn von einer halben Milliarde Franken. Eine Performance, die im margenschwachen Markt ihresgleichen sucht. Inzwischen transportiert die Swiss mehr Passagiere als die Swissair zu ihren besten Zeiten.
War das Grounding also ein Glücksfall? Der Wirtschaftsanwalt Peter Nobel spricht von einer «ökonomisch guten Lösung» mit der Lufthansa. Die Identifikation der Bevölkerung mit der Swiss sei hoch, «doch erliegen die Schweizer sehr oft dem Preisargument». Billigairlines, aber auch finanzstarke Airlines aus der Golf-Region sind zur grossen Konkurrenz geworden.
Andreas Wittmer, Direktor des Center for Aviation Competence an der Universität St.Gallen, sieht vor allem im Zugang zum Lufthansa-Netz und im Beitritt zum Airline-Verbund Star Alliance die Gründe für den Erfolg.
Bei der Übernahme sei die Swiss auf wackligen Beinen gestanden, sagt Wittmer. «In ihrer Misere war die Lufthansa ganz sicher der beste Rettungsanker. Aber volkswirtschaftlich betrachtet gab es auch Risiken.» Der Flugverkehr sei die einzige interkontinentale Verknüpfung des Binnenlandes Schweiz ins Ausland. «Für eine Exportnation ist diese aviatische Anbindung zentral.»
Was also, wenn sich die Schweiz mit Deutschland überwerfen würde? Theoretisch könnte die Lufthansa mit der Swiss weniger Flüge in die Schweiz durchführen. Die heimische Wirtschaft würde sofort leiden. Im Falle der Lufthansa sei dieses Risiko zum Glück minimal, sagt Wittmer, da Deutschland eine transparente Demokratie sei und eine ähnliche Kultur wie die Schweiz pflege. «Insofern ist die Lösung mit der Lufthansa nach wie vor gut für die Swiss.»
Georges Schorderet, der heute in Riad lebt, fliegt nur noch selten mit der Swiss, da Saudi-Arabien nicht mehr zum Streckennetz gehört. «Aber für mich ist sie eine der besten Airlines in der Branche.»
Mitarbeit: Patrik Müller und Sarah Serafini (aargauerzeitung.ch)