Herr Gabathuler, hat die persönliche Einstellung eines Richters einen Einfluss darauf, wie das Gericht in einem Sorgerechtsstreit entscheidet?
Thomas Gabathuler: Ja, das persönliche Rollenbild des Richters ist von grosser Bedeutung. Und zwar heute mehr denn je. Früher orientierten sich die meisten Richter an einem traditionellen Familienbild. Heute ist der Spielraum grösser, und es ist oft Glückssache, ob ein Vater sein Kind mehr oder weniger betreuen darf, oder ob er mehr oder weniger Unterhalt bezahlen muss.
Seit Anfang 2017 ist das neue Unterhaltsrecht in Kraft. Nun zeigen sich Männerorganisationen von der Umsetzung bitter enttäuscht: Diese sei «diskriminierend», Männer würden immer noch häufig zu «Zahlvätern» degradiert. Teilen Sie diese Beobachtung?
So generell lässt sich das nicht sagen. Grundsätzlich hat sich die Stellung der Väter verbessert. Früher war ein Mann, der sein Kind nach einer Trennung mehrere Tage pro Woche betreuen wollte, praktisch chancenlos, wenn sich die Mutter querstellte. Heute sind seine Chancen zumindest intakt – sofern er einen aufgeschlossenen Richter erwischt. Und natürlich ist es nicht sehr vorteilhaft, wenn der betreffende Vater sich in der Betreuung vor der Trennung nicht besonders engagiert hat. Wie die Betreuungsfrage im individuellen Fall gelöst wird, wirkt sich dann auf die Höhe der Unterhaltsbeiträge aus. Entscheidend ist aber auch, welches Berechnungsmodell die Richter beim neu eingeführten Betreuungsunterhalt anwenden – und hier herrscht leider ein kompletter Wildwuchs. Bisher fehlt ein Bundesgerichtsurteil zu dieser Frage.
Teilweise würden «absurd hohe Ausgleichszahlungen» verlangt, schreibt der Dachverband Männer.ch in einer Resolution (siehe Box). Einverstanden?
Die Spielregeln haben sich vor allem für unverheiratete Paare geändert. Für sie gelten unter dem neuen Gesetz Rahmenbedingungen, die denen für geschiedene Ehepaare angenähert sind. Das heisst: Der zahlende Elternteil muss nicht nur für sein Kind aufkommen, sondern den anderen Elternteil auch für dessen Betreuungsarbeit entschädigen. Abhängig vom Berechnungsmodell und vom Einkommen der Eltern können die Kosten so tatsächlich durch die Decke gehen. Hat ein nicht verheirateter Mann einen guten Job und zwei Kinder, können sich die Unterhaltszahlungen gut und gern auf 5000 Franken belaufen.
Neu spielt es rechtlich keine Rolle mehr, ob ein Kind im Rahmen einer Ehe oder bei einem One-Night-Stand gezeugt wurde. Welche Folgen hat das in der Praxis?
Ein Sorgerechts- und Unterhalts-Streit nach einem One-Night-Stand – das wird sofort kompliziert. Weil die Eltern nie zusammengelebt haben, kann man nicht von der Erwerbs- und Betreuungssituation ausgehen, die vor der Trennung herrschte. Angenommen, eine Frau hat einen gut bezahlten Vollzeitjob, wird dann von einer Affäre schwanger und will sich nach der Geburt mehrheitlich auf die Betreuung des Kindes konzentrieren: Bis zu welchem Grad muss der Kindsvater ihren Lohnausfall ersetzen? Je nach Kanton gibt es die unterschiedlichsten Antworten. Die einen sagen, der Kindsvater muss das Existenzminimum der Mutter decken, andere sagen, der Kindsvater muss der Mutter 50% des Lohnes ersetzen, wenn diese das Kind 50% selber betreut, wiederum andere setzen für diese 50% Lohnausfall eine Pauschale, zum Beispiel 1'500 Franken, ein. Sie sehen, ein rechtes Durcheinander.
Besonders umstritten ist in diesem Zusammenhang die sogenannte 10/16-Regel des Bundesgerichts. Sie sieht vor, dass der betreuende Elternteil erst ab dem zehnten Geburtstag des Kindes wieder Teilzeit arbeiten muss – und ab dem 16. Altersjahr Vollzeit. Wie stehen Sie dazu?
Diese Regel ist aus meiner Sicht definitiv nicht mehr zeitgemäss. Schliesslich gibt es gerade in städtischen Regionen sehr viele externe Betreuungsangebote. Wenn hochqualifizierte Akademikerinnen einen Anreiz haben, sich zehn Jahre lang aus dem Arbeitsmarkt auszuklinken, dann ist damit niemandem gedient. Die Zürcher Gerichte wenden die 10/16-Regel darum auch kaum mehr an. Gleichzeitig halten die Richter in anderen Kantonen eisern daran fest. Ich hoffe sehr, dass das Bundesgericht in dieser Frage bald ein Machtwort spricht.
Müsste auch die Politik aktiv werden?
Hätten die Politiker beim Unterhaltsgesetz ihren Job richtig gemacht, hätten wir jetzt ein paar Probleme weniger. Für mich ist es unverständlich, warum es das Parlament zum Beispiel unterlassen hat, klare Kriterien für die Berechnung von Unterhaltsbeiträgen ins Gesetz zu schreiben. Es überliess die gesamte Interpretation den Gerichten – und hat so für viel Rechtsunsicherheit und Willkür gesorgt.
Können Paare diese Probleme umgehen, wenn sie Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit von Anfang an Fifty-Fifty aufteilen?
Ja, bei einer solchen Ausgangslage erübrigen sich viele Probleme. Im Idealfall können so nach einer Trennung beide Elternteile weiterhin für das Kind da sein und ihrem Job nachgehen – und keiner ist dem anderen finanziell etwas schuldig. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die alternierende Betreuung insgesamt oft kostspieliger ist. In finanziell knappen Verhältnissen ist das nicht immer realistisch. Schwierig wird es meist, wenn die Paare während ihrer gemeinsamen Zeit eine traditionelle Rollenteilung wählen und die Weichen nach der Trennung plötzlich komplett anders stellen wollen.
Stichwort alternierende Obhut: Das Modell sieht vor, dass das Kind abwechselnd bei beiden Elternteilen lebt. Nun kritisieren die Väterorganisationen jedoch, dass diese Möglichkeit «viel zu selten» angewandt wird, obwohl es laut dem neuen Gesetz explizit geprüft werden müsste.
Es ist sicher so, dass konservative Richter die alternierende Obhut nicht wahnsinnig fördern. Dazu kommen praktische Schwierigkeiten: So müssen die Eltern nahe beieinander wohnen, damit das Kind zwischen zwei Wohnungen pendeln kann. Manchmal lässt sich eine solche Wohnsituation trotz gutem Willen nicht herstellen. Und bei manchen Trennungen – da muss man realistisch sein – kommt dann halt noch ein böser Wille dazu. Dann versucht ein Elternteil, eine alternierende Obhut mit seiner Wohnsitzwahl oder auch mit Kommunikationsverweigerung zu verhindern.
Immerhin: Wenn ein Elternteil mit den Kindern weit weg ziehen will, etwa ins Ausland, braucht er laut dem neuen Gesetz die Einwilligung seines Ex-Partners. Greift wenigstens diese Regelung?
Nein, leider nicht. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Mütter mit ihren Kindern ins Ausland ziehen, obwohl der Vater damit nicht einverstanden ist – oder umgekehrt. In den meisten Fällen bekommt der Elternteil, der wegzieht, am Ende vor Gericht Recht. Das ist dann ein Problem für den Elternteil, der bleibt. Dessen Kontakt zu den Kindern wird eingeschränkt. Die Gerichte betrachten den Wegzug als ‹fait accompli› und prüfen nicht, welche Lösung dem Kindswohl am besten dient.