Grenzkontrollen am Brenner und Hunderttausende Flüchtlinge in Libyen, von denen immer mehr die gefährliche Überfahrt nach Sizilien wagen: Es braucht keine Auguren, die der Schweiz an ihrer Südgrenze steigende Zahlen voraussagen. Noch sind sie zwar verhältnismässig tief, doch die letzten Jahre zeigten: Mit stabileren Wetterbedingungen in der wärmeren Jahreszeit wird auch die Zahl der Mittelmeer-Überfahrten nach Italien wieder steigen.
Und die Erfahrung mit unserem südlichen Nachbarn ist diese: Die wenigsten wollen in Italien bleiben, sondern weiter Richtung Nordeuropa. Mit der Sperrung der Österreicher am Brenner aber ist es eng geworden für die Flüchtlinge. Es bleiben faktisch die Schweiz und Frankreich zur Weiterreise.
Heute beraten die Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren über ein Notfallkonzept Asyl, das der Bundesrat in Kraft setzen soll, wenn er eine Notsituation erkennt (siehe Text unten). Der Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD), der Berner Polizeidirektor Hans-Jürg Käser, nannte letzte Woche das wichtigste Ziel: Alle Asylsuchenden sollen registriert und auf ein Sicherheitsrisiko sowie ihren Gesundheitszustand hin überprüft werden, sagte er in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger».
Die Behörden bereiten sich anhand dreier Szenarien vor: Das Worst-Case-Szenario geht von 30'000 Grenzübertritten innert weniger Tage aus. Die allermeisten Asylbewerber würden mit der Bahn ankommen. Tritt dieses Szenario ein, so wird es eng auf den Grenzbahnhöfen oder in den improvisierten Empfangszentren. Es stellt sich die Frage: Wo und wie genau wollen die Behörden flächendeckend Registrierung und Kontrolle sicherstellen?
Gegenüber der «Nordwestschweiz» verweist KKJPD-Präsident Käser auf die Medienkonferenz im Anschluss der Sitzung von heute Nachmittag. Und auch das Grenzwachtkorps (GWK) will den Beschlüssen zum Notfallkonzept nicht vorgreifen. Selbst die Frage, wie viele Migranten aktuell pro Tag an den wichtigsten Grenzbahnhöfen bewältigt werden können, beantwortet das GWK nicht. Der GWK-Sprecher David Marquis begründet die ausbleibende Antwort mit der sich stets verändernden Lage.
Vertreter des GWK werden bei Ausrufung des Notstands durch den Bundesrat die Aufgaben im Sonderstab Asyl koordinieren. Zusammen mit Vertretern aller involvierten Departemente, der Armee, des Nachrichtendienstes und der Kantone.
Im Sonderstab Asyl fehlen die SBB, im Auftrag des Bunds immerhin Hausherrin der Bahnhöfe: An diesen, vor allem in Chiasso oder Brig, könnten bei einem plötzlichen Ansturm bis zu mehrere tausend Asylbewerber pro Tag auf den Perrons stehen. Junge, Alte, Kinder, eventuell Kranke, viel Gepäck – wie werden die Behörden ein Chaos zu verhindern wissen? So, wie es sich letzten Herbst in Österreich und Deutschland zugetragen hat?
In beiden Ländern waren die Behörden überfordert, die Asylbewerber liessen sie unregistriert und unkontrolliert weiterziehen. In Österreich im Wissen darum, dass die allermeisten sowieso nach Deutschland weiterziehen wollten, in Deutschland reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Ausrufung ihrer Willkommenskultur. Wer verteilte Essen, Getränke, Decken? Anstelle der Behörden trat die Zivilgesellschaft.
In der Schweiz will man aus der Flüchtlingskrise, die in Europa letzten Herbst ihren Höhepunkt erreicht hatte, die Lehren gezogen haben. Das GWK preist seine Stärken an: «Der Vorteil eines nationalen Korps wie unserem ist, dass es Verstärkung aus GWK-Regionen herbeiziehen kann, die zum aktuellen Zeitpunkt weniger belastet sind.» Auch KKJPD-Präsident Käser zeigte sich vorsichtig optimistisch.