Genf ist einer der grössten Corona-Hotspots in der Schweiz. Auf der Suche nach Gründen dafür wird auch die kulturelle Durchmischung der Bevölkerung mit einem hohen Migrationsanteil genannt. Nicht zuletzt auch, weil die OECD für ihre Mitgliedländer festgestellt hat, dass es eine systematische Überrepräsentanz von Migranten bei den Covid-19-Fällen und bei der Sterblichkeit gibt. Zum Beispiel war gemäss OECD in Kanada, Dänemark, Norwegen, Portugal und Schweden das Infektionsrisiko für Migranten doppelt so hoch wie das der im Inland Geborenen. Auch wurden zum Beispiel während der ersten Welle die starken Familienbande der Italiener für die starke Verbreitung mitverantwortlich gemacht.
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Der ehemalige Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit (BAG), Daniel Koch, sagt dazu, dass kulturelle Strukturen genauso wie sozioökonomische Faktoren eine grosse Rolle spielen können bei der Ausbreitung einer Pandemie. So gibt es auch in der Schweiz Hinweise auf einen Einfluss der Zusammensetzung der Bevölkerung. Es zeigte sich zum Beispiel, dass Migranten nach der Grenzöffnung in ihre Heimatländer gereist sind und sich dort angesteckt haben. Dazu gibt es nach Koch aber weder Daten noch Studien. «Aber es ist offensichtlich, dass Familienstrukturen einen starken Einfluss haben auf das pandemische Geschehen», sagt der ehemalige Covid-19-Sonderbeauftragte des Bundes.
Allerdings lässt sich nicht festmachen, welche Einwanderergruppen speziell gefährdet sind. Das hängt stark davon ab, wie die epidemische Situation in den jeweiligen Ländern ist. «Nach der Grenzöffnung im Sommer hatten die Balkanländer hohe Fallzahlen, deshalb haben sich dort viele Menschen mit Migrationshintergrund angesteckt», sagt Koch. Das sei aber ein allgemeines Phänomen bei übertragbaren Krankheiten und gelte nicht nur für Covid-19, sondern zum Beispiel auch für die Tuberkulose.
Dass die Lebensart eine Rolle spielt bei der Verbreitung des Virus, scheint logisch, wenn das in vielen Fällen auch sehr klischiert wirkt. Während man den Italienern wegen ihres Familienzusammenhalts eine höhere Ansteckungsgefahr nachsagte, hielt man die Schweden wegen ihrer Nüchternheit für weniger gefährdet. Was ja dann nicht stimmte, weil die Fallzahlen im Vergleich zu den Nachbarländern höher waren. «Natürlich stecken sich die allermeisten Menschen bei zwischenmenschlichen Aktivitäten an - beim Händeschütteln und Küsschen geben», sagt Koch. Und da gibt es je nach Kultur und Nationalität Unterschiede, die einen Einfluss haben können. Koch sagt dazu:
Menschen aus dem Mittelmeerraum haben wohl eher Schwierigkeiten, weil ihre sozialen Kontakte körperbetonter sind, als jene, die in Ländern leben, die von Natur aus eher Distanz halten.
Daraus zu schliessen, dass Migranten generell weniger auf die Massnahmen achten, wäre aber falsch. Das sieht auch die OECD für ihre Mitgliedsländer so. Nicht fahrlässiges Verhalten führe in erster Linie zu mehr Ansteckungen bei Migranten, sondern deren sozioökonomische Strukturen: Beengte Wohnverhältnisse mit Überbelegungen in den Zimmern, zusammenlebende Grossfamilien, häufigere Nutzung des öffentlichen Verkehrs, eingeschränkter Zugang zu Informationen aufgrund mangelnder Kenntnisse der Sprache des Gastlandes und gefährdetere Berufe, die nicht im Homeoffice ausgeführt werden können, wie zum Beispiel in der Gastronomie.
Und wie sieht das hierzulande aus? «Für die Schweiz kann man das nicht schlüssig beantworten, weil man solche Daten nicht hat. Diese werden bei den medizinischen und bei den Labordaten nicht abgefragt. Es wird nicht nach Familienverhältnissen oder einem allfälligen Migrationshintergrund gefragt», sagt Koch. Und tatsächlich gibt es vom BAG dazu wenig Auskunft. «Wir erfassen nur die Nationalität, jedoch wird diese Variable nicht routinemässig ausgewertet. Es werden keine Daten zur Religion oder Familienstruktur erfasst», sagt Daniel Dauwalder vom BAG. Und die Daten zur Nationalität werden nicht öffentlich ausgewiesen.
Um Ansteckungsherde festzumachen, wäre es aber wichtig, genauer zu wissen, wo sich Menschen aufgrund ihrer Lebens- und Familienverhältnisse anstecken. Im realen Leben sei das praktisch nicht eruierbar, sagt Koch. «Man kann zwar vieles messen. Aber wie relevant diese Daten dann für die wirkliche Ausbreitung des Virus sind, bleibt schwierig festzustellen.» Er nennt das Beispiel der Grossraumbüros, in denen sich viele angesteckt hätten. Ob das aber über Luftübertragungen erfolgt sei oder doch eher über Gegenstände, in der Cafeteria oder im Lift, lasse sich nicht feststellen. Deshalb bleiben die Aussagen zu Ansteckungsorten vage. Auch in Bezug auf die Familie, den häufigsten Infektionsherd. Dort sind, gleich ob mit oder ohne Migrationshintergrund, die Schutzmassnahmen am schwierigsten einzuhalten.
So führt kein Weg über die generellen Abstands- und Hygieneregeln, und das über Nationalitäten hinweg. Allerdings müssen diese Empfehlungen auch von den Ausländern verstanden werden, die keine Landessprache sprechen. Zu Beginn der Pandemie ist das BAG scharf kritisiert worden, weil es in seinen Kampagnen die Migrantinnen und Migranten vernachlässige, wie es aus diversen Diasporagemeinden hiess. Darauf hat das Amt in den vergangenen Monaten seine Informationen dann nach und nach in andere Sprachen übersetzt. Auf seiner Website sind diese inzwischen in über 25 Sprachen zu finden, darunter etwa auch auf Amharisch, Somali und Tigrinisch. Überdies verbreiteten sogenannte Migrationsmedien wie der Sender «Diaspora TV», der in 16 Sprachen informiert, die Anweisungen und Empfehlungen der Behörden. Die Angebote werden laufend ausgebaut.
Es brauche «audiovisuelles Material, um Menschen mit keinen oder begrenzten landessprachlichen Kenntnissen in die Bekämpfung der Ansteckungen einzubeziehen», erklären die Verantwortlichen des Senders. Piktogramme und textbasierte Materialien reichten nicht, um sie wirksam zu erreichen. Zumal der Fokus der offiziellen BAG-Kampagne für die zweite Welle nach wie vor bloss auf der «allgemeinen Bevölkerung» liege.
Allerdings: Am Ende dürfte auch der Verbreitungsgrad von Spartenkanälen zu bescheiden sein, um breite Schichten zu durchdringen. In der Verantwortung stehen die Behörden. Gesundheitsbeamte räumen unterdessen ein, dass es bei Pandemien und anderen Gesundheitskrisen fortan neue Wege braucht, um die Migrationsbevölkerung mit Informationen zu versorgen.
Vor diesem Hintergrund hat das BAG unlängst ein Forschungsprojekt mit Befragung lanciert - es soll die «coronabezogene Gesundheitskompetenz der Migrationsbevölkerung» näher beleuchten, wie es heisst. Die Erkenntnisse sollen helfen, entsprechende Informationen künftig besser zu vermitteln. Ebenso erhofft sich das Amt allenfalls Hinweise, «wie die Gesundheitskompetenz der Migrationsbevölkerung gestärkt werden könnte». Für das Projekt sind rund 11'0000 Franken veranschlagt.